„Der Fisch ist weg.“
„Was hast du gesagt?“ Abwesend schaute Kassandra von ihrem Buch hoch, mit dem sie in der gemütlichen Leseecke saß, während draußen ein Dezemberschneesturm über das
Fischland tobte.
Ganz vertieft in das unheimliche Abenteuer von Ebenezer Scrooge mit dem Geist der zukünftigen Weihnacht hatte sie Paul nur mit halbem Ohr gehört.
Der stand mit ratlosem Blick drüben in der Küche. „Der Fisch ist weg“, wiederholte er und steckte den Kopf in den Kühlschrank.
Kassandra hörte, wie Paul suchend Lebensmittel hin und her schob und vor sich hin murmelte. „Ich hab doch … Also, ich bin sicher …“ Dann tauchte sein Kopf wieder
auf. „Wenn die Meerforelle Beine hätte, würde ich sagen, die ist weggelaufen, bevor sie in den Ofen musste.“
Kassandra lachte. „Die soll froh sein, wenn sie’s warm kriegt bei der Kälte.“ Dann stand sie stirnrunzelnd auf. Paul hatte die Forellen gestern bei Haui‘s Fisch
& mehr gekauft, um sie heute für ihr Adventsessen zuzubereiten, zu dem sie Gäste eingeladen hatten. Paul trat vom Kühlschrank zurück, um Kassandra die Suche zu überlassen, doch auch sie wurde
nicht fündig.
„Wir sollten die Polizei informieren“, meinte sie. „Während wir bei Heinz waren, muss ja wohl hier eingebrochen worden sein.“
„Um den Fisch zu klauen?“, fragte Paul ungläubig.
„Ziemlich unwahrscheinlich“, gab sie zu. „Aber vielleicht fehlt ja sonst noch was. Wir sollten das nachprüfen.“
Eine halbe Stunde später stand fest, dass einzig und allein der Fisch nicht da war, wo er hingehörte.
„Wenn Kay Dietrich nachher kommt, kann er sich den Fall ja mal ansehen“, sagte Kassandra.
„Wenn Kay Dietrich nachher kommt, kann er vor allem feststellen, dass er bloß die Beilagen zu essen kriegt. Süßkartoffeln, Kürbis, Honig, Sahne und Walnüsse hat der
Dieb ja freundlicherweise da gelassen“, sagte Paul. „Außerdem ist Dietrich nicht für Diebstahl zuständig.“
„Naja.“ Kassandra griente. „Genau genommen wurden die Forellen ja durchaus ermordet, bevor du sie gekauft hast.“
„Haha“, machte Paul, grinste aber ebenso. „Also, gehen wir mal systematisch an die Sache ran. Sind irgendwo Einbruchspuren zu finden?“
Kassandra untersuchte die Tür, Paul die Fenster – nichts. „Das heißt ja wohl, dass derjenige, der uns ungebeten besucht hat, einen Schlüssel haben muss. Es gibt
aber nur drei: Einen hab ich, den anderen du und den dritten Bruno für Notfälle. Abgesehen davon, dass es absurd wäre, Bruno zu verdächtigen, weil er erstens so was nie täte und ihm zweitens sein
Anteil an den Forellen heute Abend entginge, könnte er sich bei Bedarf sowieso seinen eigenen Fisch angeln.“
„Bei dem Wetter?“ Wie um Kassandras Worte zu unterstreichen, fegte eine heulende Windböe ums Haus, das hinter den Wustrower Dünen stand.
Paul runzelte die Stirn. „Was soll das heißen? Du verdächtigst doch nicht ernsthaft Bruno!“
„Du hast immerhin erzählt, dass du ihn gestern bei Haui getroffen hast. Er wusste also von den Forellen. Und er hat einen Schlüssel.“ Kassandra sah, dass Paul ärgerlich wurde, seine Stirn
umwölkte sich, er blitzte Kassandra an.
„Das ist das Dämlichste, was ich je gehört habe. Bruno stiehlt nicht. Erst recht keinen Fisch. Erst recht nicht meinen verdammten Fisch!“
Kassandra kam sich selbst seltsam bei ihren Schlussfolgerungen vor. Dummerweise schien es keine andere plausible Möglichkeit zu geben. „Aber …“, fing sie an, wurde jedoch durch die Türklingel
unterbrochen.
Paul warf ihr noch einen letzten unwilligen Blick zu, bevor er öffnen ging. Kassandra folgte ihm, neugierig, wer sich bei dem Sturm rauswagte, ohne es unbedingt zu müssen. Vor der Tür stand eine
vermummte Gestalt, einen dicken Schal ums Gesicht gewickelt, Schnee auf der tief in die Stirn gezogenen Mütze. In den Händen trug sie ein Päckchen, das sie Paul entgegenhielt. Eine dumpfe Stimme
hinter dem Schal sagte etwas, das mit viel Fantasie klang wie „Forellen“.
Paul und Kassandra starrten beide abwechselnd auf das Päckchen und die Gestalt, die sich gerade den Schal von Nase und Mund zog. „Kann ich reinkommen, oder soll ich hier draußen
festfrieren?“
„Bruno?!“, kam es wie aus einem Mund von Kassandra und Paul.
„Ja, wer sonst? Der Nikolaus? Was ist jetzt, lasst ihr mich rein? Und nehmt ihr mir freundlicherweise endlich den Fisch ab?“
Wortlos nahm Paul das Päckchen entgegen und trat zur Seite. Bruno schlug den Schnee von der Mütze und schälte sich drinnen aus seinem Mantel, den Kassandra ihm
abnahm und an die Garderobe hängte. Dabei fragte sie sich unablässig, wieso Bruno erst den Fisch klauen und ihn dann zurückbringen sollte. Irgendwas war sehr, sehr merkwürdig an dieser
Geschichte.
Bruno sah sich in der Küche um. „Sieht ja noch alles sehr jungfräulich aus, du hast also noch gar nicht angefangen zu kochen? Und Deine Forellen noch nicht
vermisst?“
„Doch. Gerade eben“, sagte Paul langsam. „Woher …“
Bruno lachte, die Falten, die die Jahrzehnte und Wind und Wetter auf der Seebrücke in sein Gesicht gegraben hatten, vertieften sich noch. „Man merkt, dass du seit
ein paar Wochen beinah pausenlos an deinem Roman sitzt und kaum zum Luftholen kommst vor lauter Schreiben. Junge, wird wirklich Zeit, dass Weihnachten wird und du mal ein paar Tage ausspannst.
Sonst vergisst du irgendwann mal was Wichtigeres als deinen Fisch.“
„Ich hab …?“, begann Paul und schüttelte fassungslos den Kopf.
„… die Forellen bei Haui liegen lassen?“, beendete Kassandra den Satz.
„Allerdings. Haben Haui und ich aber auch erst gemerkt, als wir mit unserem Schwatz am Ende waren. Paul war längst sonst wo, Haui wollte ihn auf dem Handy anrufen,
aber ich hab gemeint, dass ich die Fische schon noch rechtzeitig hier vorbeibringe. Deshalb …“
Was Bruno noch sagte, ging in Kassandras und Pauls Gelächter unter.