oder: Gretas Weihnachtsgeschichte
Das hübsche junge Mädchen und der hübsche junge Prinz ritten auf ihren weißen Pferden zu der romantischsten Musik, die ich je gehört hatte (und da war ich ganz
sicher: je hören würde), glücklich durch eine weiße Winterlandschaft, bis sie kaum noch zu sehen waren.
Ich griff nach der Packung Taschentücher neben mir und zog das mindestens zehnte daraus hervor. Meine Tränen kullerten unaufhörlich, ich kam mir albern vor und fühlte mich gleichzeitig absolut
gut. Seufzend schaltete ich den Fernseher aus und putzte mir noch mal die Nase, konnte aber auch danach zwei, drei letzte Schniefer nicht unterdrücken.
"Um Himmels Willen, Greta! Was ist passiert?"
Ich hatte Matthias gar nicht von draußen hereinkommen hören, so gefangen war ich noch in der Märchenwelt. Ich drehte mich um und sah ihn auf mich zukommen, Erschrecken im Gesicht. Bevor ich etwas
sagen konnte, war er bei mir und suchte nach meinen Händen. "Greta, was ist los?", wiederholte er.
Ich musste ein klein wenig verschämt lachen. "Nichts. Ich hatte bloß eine Überdosis Aschenbrödel."
"Eine...?", fing Matthias an, dann hatte er begriffen und fiel in mein Lachen ein. Eine Weile saßen wir so da, ganz nah beieinander, mein Prinz und ich in unserem Schloss am Bodden, im schönsten
Märchenland der Welt - auf dem Fischland.
Und es war Weihnachten! Bevor wir uns fanden, hatte Matthias das Fest jahrelang ignoriert und hätte das wohl auch weiter getan. Aber ich liebte Weihnachten und hatte es von Anfang an richtig gewollt - mit Dekoration pünktlich zum 1. Advent, mit Baum und Weihnachtsgans.
Drüben im alten Wohnhaus gab es einen kleinen Abstellraum, und Matthias hatte gesagt, dass irgendwo dort in einer hinteren Ecke sicher noch Weihnachtschmuck von anno Tobak lagern würde.
Tatsächlich hatte ich eine Kiste gefunden und schnell gemerkt, dass "anno Tobak" kein Scherz gewesen war. Da gab es Kugeln und Strohschmuck, Jahrzehnte, einige Teile möglicherweise schon
über 100 Jahre alt, die sogar noch aus Carls Kindheit stammen mochten. Ein Schatz, mit dem ich das Haus dekoriert und mit Matthias‘ Hilfe auch den Baum geschmückt hatte.
Die Tanne stand vor der großen Fensterfront, die den Blick auf die leicht überzuckerten Weiden und den mit einer ganz dünnen Eisschicht überzogenen Bodden erlaubte.
Wie sehr bedauerte ich, dass Matthias all das nicht richtig sehen konnte, aber die Kerzen in den Tannenzweigen leuchteten hell genug für seine Augen, und gestern an Heiligabend hatte er eine ganze Weile vor dem Baum gestanden und mich gebeten, ihn in allein Einzelheiten zu beschreiben. Ich war sicher, dass er ihn auf seine Weise "sah".
"Greta?", sagte er jetzt und schnupperte hörbar. "Was ... riecht da so ... angebrannt?"
"Die Gans!" Ich sprang auf und hechtete zur Küche. Dieses Kunstwerk von Herd, für dessen Bedienung man ein Ingenieursdiplom brauchte, hatte nicht ich angeschafft, aber mich mittlerweile damit
angefreundet. Es lag also nicht daran. Es lag an meinen nicht gerade legendären Kochkünsten - und an Aschenbrödel und dass ich darüber alles andere vergessen hatte. Leider roch die Gans nicht nur
angebrannt. Die Tränen, die mir jetzt in die Augen stiegen, waren keine der Rührung und kamen auch nicht vom dicken Rauch in der Küche. Ich konnte nur noch den schwarzen Vogel zum Abkühlen auf
den Tisch stellen - und mich in den Bodden stürzen.
Auch wenn ich diesmal nicht geschnieft hatte, wusste Matthias, was in mir vorging. Er schlang die Arme um mich. "Wir essen was anderes, ist doch kein Problem", sagte er leise.
"Und woher willst du was anderes nehmen? Es ist Weihnachten! Kein Geschäft hat auf!"
"Wir haben den Kühlschrank voller kalter Köstlichkeiten und werden wohl kaum verhungern", spöttelte Matthias.
Das stimmte, aber ... "Das ist nicht dasselbe!"
Ich starrte auf die Bescherung, die gar nichts Weihnachtliches hatte, und fragte mich, wen ich bestechen könnte, uns seine Gans abzutreten. Gern inklusive Klöße, denn die waren zwar nicht
verbrannt, aber völlig verkocht und schwammen schon in Einzelteilen im Wasser. Einzig der Rotkohl war noch zu gebrauchen, aber auch nur, weil ich vergessen hatte, die Kochplatte darunter
anzustellen. Es war eine Katastrophe. Wieso nur, wieso hatte ich den Eindruck, dass Matthias sich sehr viel Mühe geben musste, nicht zu lachen?
Zu allem Überfluss klingelte es jetzt auch noch an der Tür. Wer um Himmels Willen kam denn zur Essenszeit am Weihnachtsabend zu Besuch? Ungnädig öffnete ich und wurde kurz vom Licht des Bewegungsmelders geblendet. Als ich wieder richtig sehen konnte, stand ich direkt vorm Weihnachtsmann.
"'n Abend, Frau Röwer", sagte er durch seinen Rauschebart, der fast das ganze Gesicht bedeckte, dabei aber nicht ganz so weiß war wie der Schnee, auf dem Aschenbrödel und ihr Prinz ins Happy End
geritten waren. Ein Grauschleier lag auf dem leicht verfilzten Bart, wie überhaupt auch der rote Mantel und die Mütze schon mal bessere Tage gesehen hatten. Der Weihnachtsmann hielt eine Tüte
hoch. "Können Sie vielleicht ein paar Fische brauchen? Ich weiß, ist kein traditionelles Weihnachtsessen, aber ... vielleicht ..."
Ungläubig sah ich in die hellblauen Augen des Weihnachtsmannes. Zwinkerten sie mir zu?
"Willst du unseren Besuch nicht reinbitten, Greta?", hörte ich Matthias hinter mir rufen. "Wer ist es? Der Weihnachtsmann?"
Während ich den Weihnachtsmann immer noch sprachlos anstarrte, lachte er.
"So ähnlich", rief er zurück, was Matthias veranlasste, ebenfalls an die Tür zu kommen.
"Herr Ewald - das ist ja eine Überraschung! Kommen Sie rein."
Bruno Ewald! Der Angler, den man so gut wie jeden Tag auf der Seebrücke stehen sah, und mit dem wir schon das eine oder andere Mal länger geplaudert hatten. Matthias hatte ihn besser an der
Stimme als ich hinter seiner Verkleidung erkannt. Nun ergab auch seine Frage mit dem Fisch einen Sinn.
"Nein, vielen Dank", antwortete der Weihnac... Herr Ewald. "Ich bin auf dem Sprung zu Paul und Kassandra. Sie haben ein paar Gäste eingeladen, die Paul mit meinem frischen Fang beglücken will -
er kann Fisch ja wirklich begnadet zubereiten. Leider musste kurzfristig jemand absagen, es ist reichlich übrig. Wollen Sie?" Wieder hielt er mir die Tüte hin, nach der ich nun langsam
griff.
"Gern! Sie haben unser Abendessen gerettet - aber woher wussten Sie ...?"
Bruno Ewald lachte wieder. "Fragen Sie mich was Leichteres. Ich habe manchmal ... Vorahnungen. Eine davon ereilte mich, als Paul anrief und sagte, ich solle drei Fische weniger mitbringen. Tja,
und da bin ich nun. Hoffe, sie schmecken."
"Das werden sie ganz bestimmt, vielen Dank, Herr Ewald", sagte Matthias. "Sie sind wirklich der Weihnachtsmann, unsere Gans hat es nämlich im doppelten Wortsinn nicht überlebt."
"Herr Ewald ist auch in doppeltem Wortsinn der Weihnachtsmann", erklärte ich Matthias, um mich dann wieder an Bruno Ewald zu wenden. "Ihr Kostüm ist außergewöhnlich."
"Tja, in der Tat. Es muss mindestens 50 Jahre auf dem Buckel haben. Ich fand es letztens beim Aufräumen auf dem Dachboden in einer alten Truhe und weiß gar nicht mehr, wieso es da lag. Es ist
nämlich gar nicht meins, sondern das von Pauls Vater." Wehmütig strich er über den etwas zerschlissenen Mantel. "Bin sicher, Paul wird den Weihnachtsmann seiner Kindheit wiedererkennen. Ich bin
sozusagen der Geist der vergangenen Weihnacht." Sein Gesicht hellte sich mit einem Lächeln wieder auf. "Ihnen beiden noch schöne Feiertage."
Er hob grüßend die Hand und verschwand in der Nacht, der Saum des roten Mantels berührte die weiße Puderzuckerschicht auf dem Weg, und einen Augenblick lang sah es aus, als tanzten tausend
funkelnde Kristalle einen fröhlichen Weihnachtstanz. Verzaubert blieb ich stehen, die Tüte mit den Fischen in meiner Hand vergessen. Da spürte ich Matthias' Hände auf meiner Schulter. "Kannst
du's hören?", fragte er ganz dicht an meinem Ohr. "Ein bisschen klirrend, knisternd, ein Windhauch - es ist wie leise Musik, die durch die Luft schwingt: der Fischländer Winter."
* Ich danke meinem Mann Jörg für diesen wunderbaren Titel!