Außer Atem blieb Violetta auf dem Hohen Ufer stehen. Sie joggte regelmäßig hier, zu jeder Jahreszeit - und sie kam so gut wie nie aus der Puste. Dass es in letzter Zeit anders war, lag daran, dass sie sich Sorgen machte. Wenn sie sich Sorgen machte, atmete sie falsch. Schnappatmung nannte man das wohl. Wobei - böse Zungen behaupteten ja, dass sie andauernd schnappatmen müsse, weil sie grundsätzlich viel zu schnell und ohne Punkt und Komma redete. Hahaha. Naja. Das stimmte wohl...
Violetta seufzte und verfolgte mit dem Blick die Atemwölkchen vor ihrem Gesicht. Was war bloß los mit ihrer Freundin Kassandra? Seit Wochen schien sie abwesend,
niedergedrückt. Oh, sie gab sich Mühe, das nicht zu zeigen. Sie lachte an den richtigen Stellen, wenn Violetta was Lustiges erzählte, sie diskutierte mit ihr über die Romane, die sie gemeinsam
lasen - aber alles irgendwie auf Sparflamme. Violetta kannte Kassandra jetzt schon ziemlich lange, sie spürte, dass etwas im Argen lag. Normalerweise hielt sich Violetta nicht zurück, ihre
Neugier war so legendär wie ihr Schnellreden. Dennoch ... Diesmal ahnte sie, dass es besser war, nicht zu fragen. Violetta schauderte, rieb sich die Arme, setzte sich langsam wieder in Bewegung,
der Seebrücke entgegen, und versuchte, an gar nichts zu denken.
Das gelang ihr, bis sie in die Strandstraße einbog, wo die Weihnachtsbeleuchtung aus Tannenbäumen und Sternen an den Laternen den dunklen Morgen fröhlicher machte. Drüben beim "Dünentraum" stand ein mit Kerzen geschmückter Baum vorm Eingang, und unwillkürlich mogelte sich Kassandra wegen ihrer Fotoausstellungen im Hotelfoyer zurück in Violettas Gedanken.
Da war sie auch noch, als Violetta am Haus der Klabauter's vorbei lief - ein ehemaliges Kapitänshaus mit hellgrünen Fensterläden und hellgrüner Tür. Vom Dach hingen
Leuchtketten herunter, die aussahen wie Eiszapfen und trotzdem ein Bild der Wärme verströmten.
Violetta wurde langsamer, je näher sie der Lindenstraße kam. Ob sie einfach bei Kassandra klingeln sollte? Sie stand noch unschlüssig an der Ecke, als sie einen Mann mit einem Kinderwagen aus der Lindenstraße auf sich zukommen sah, der schließlich vor ihr stehen blieb.
"Morgen, Violetta", grüßte Jonas. "Willst du zu Kassandra? Es brennt schon Licht. Auch wenn sie zurzeit keine Gäste hat, ist sie schon auf."
"Hmmm", machte Violetta und warf statt einer Antwort zuerst einen Blick in den Kinderwagen, in dem Jonas' kaum zwei Monate alter Nachwuchs dick eingepackt lag. Ein Lächeln glitt über ihre Züge, sie streckte die Hand aus und strich einen Zentimeter über dem kleinen Näschen durch die Luft. Als sie sich wieder aufrichtete, war das Lächeln von ihrem Gesicht verschwunden. "Dann schläft sie also nicht so ruhig und friedlich wie Jendrik, obwohl sie ausschlafen könnte bis in die Puppen, ist dir auch aufgefallen, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt in letzter Zeit?"
Jonas nickte. "Ist dasselbe bei Paul. Und Heinz Jung grummelt fast so wie früher. Obwohl ich glaube, dass er Kassandra ab und zu aufheitern will."
"Oh, daran hab ich überhaupt noch nicht gedacht, vielleicht haben sie einen Fall zu lösen, schwieriger als sonst, und kommen damit nicht voran, was meinst du?"
"Schon möglich", sagte Jonas skeptisch. "Aber ich habe seit der aufgeklärten Einbruchserie von keinem Verbrechen in der Gegend gehört - und der November-Nebel-Blues von letztem Monat kann es auch nicht mehr sein." Jendrik begann, sich im Kinderwagen zu rühren und ein leises Gebrabbel von sich zu geben, ohne allerdings ganz wach zu werden. Sein Vater betrachtete ihn eine Weile liebevoll und nachdenklich zugleich, weshalb Violetta mutmaßte, dass es er nicht nur an das Baby, sondern auch an Kassandra und Paul dachte. Also schwieg sie ungewöhnlicherweise. Schließlich sah Jonas auf. "Hast du morgen was vor?"
"Morgen ist Heiligabend!"
"Ja, ich weiß. Blöde Frage."
"Nein." Violetta seufzte. "Meine Eltern vergnügen sich in den österreichischen Alpen, mein Bruder auf Mauritius und mein ... ach vergiss es, jedenfalls, der ist auch nicht da, und nein, ich hab absolut nichts vor, wieso?"
Und Jonas erläuterte ihr seinen Plan.
* * *
Es war Heiligabend. Ein besonderer Tag im Jahr. Vielleicht sogar der besonderste überhaupt. Wie jedes Jahr stand der Baum vor Pauls Terrassentür, und wie jedes Jahr war er geschmückt mit roten, weißen und silbernen Kugeln und Sternen, mit roten Schleifen und Kerzen, die ein gemütliches, flackerndes Licht verströmten. Wie jedes Jahr schob Kassandra die Bratäpfel, die sie zum Kaffee essen würden, in den Backofen und beobachtete anschließend Paul dabei, wie er den Fischsalat für den Abend vorbereitete. Der variierte von Jahr zu Jahr, aber Fischsalat war Tradition. Es war also alles wie immer. Fast alles. Normalerweise redeten sie beim Kochen miteinander, ließen die letzten Monate Revue passieren, erinnerten sich an die schönen Dinge des Jahres. Dieses Jahr erledigten sie alles weitgehend schweigend. Nicht, dass es keine schönen Dinge in diesem Jahr gegeben hätte. Doch das, was sich besonders in ihnen festgebrannt hatte, waren die Ereignisse um Gretas Entführung im Oktober - die glücklicherweise gut ausgegangen war. Nur die persönlichen Folgen waren weniger gut, der Preis hoch gewesen - das Ende der Freundschaft mit Kay, der ihren Alleingang und die Entscheidung, den Entführer davonkommen zu lassen, verurteilt hatte. Kassandra hätte mit Paul gern mehr darüber geredet, als sie es unmittelbar danach kurz getan hatten. Sie spürte aber, dass Paul genau das lieber vermeiden wollte. Also fraß sie ihren Kummer in sich hinein. Inzwischen war es nicht nur der Kummer um die verlorene Freundschaft, inzwischen war es auch der Kummer um das zunehmende Schweigen zwischen ihr und Paul. Jetzt kämpfte sie mit den Tränen. Sie wandte sich ab, damit Paul es nicht merkte, falls er zufällig herübersah, und schaute zum Baum hin. Das Kerzenlicht verschwamm vor ihren Augen, während sich langsam der Bratapfelduft im Haus ausbreitete.
Da klingelte es an der Tür.
Beinah erschrocken wirbelte sie herum und wischte sich automatisch über die feuchten Augen.
Auch Paul sah von den Pellkartoffeln auf, von denen er bereits die Hälfte in kleine Würfel geschnitten hatte. "Erwartest du jemanden?"
Kassandra schüttelte nur den Kopf.
"Gehst du aufmachen?" Paul hob entschuldigend seine verschmierten Finger.
Diesmal nickte sie, gerade als es zum zweiten Mal klingelte.
Vor der Tür standen Jonas mit Jendrik im Kinderwagen und Marlene mit Sophie an der Hand. "Entschuldigt, dass wir stören, und das am Heiligabend", sagte Jonas. "Aber ... in der Lindenstraße ist der Strom ausgefallen, und der Notdienst schafft es erst in ein paar Stunden. Könnt ihr uns vielleicht aufnehmen?"
"Wir haben auch Kuchen mitgebracht", fügte Marlene hinzu, bevor Kassandra überhaupt was sagen konnte, und hielt ihr eine große blaue Transportbox hin.
Einen winzigen Moment lang war sie überrumpelt und sprachlos. "Ja", sagte sie dann. "Ja, natürlich, kommt rein!" Sie öffnete die Tür weit. Während die komplette Familie Zepplin ins Warme trat, fiel Kassandras Blick auf den schmalen Weg zum Haus - und sie entdeckte Heinz, der gerade um die Ecke bog. Hinter sich hörte sie die trubelige Begrüßung zwischen Paul, Jonas, Marlene und den Kindern, und wartete, bis Heinz herangekommen war und etwas schief grinste.
"Ich muss wohl nichts mehr erklären, hm?", fragte er. "Lindenstraße, Strom und so weiter. Gewährt ihr mir auch Unterschlupf?"
Kassandra lachte. Es fühlte sich ein bisschen ungewohnt an. "Na klar. Schön, dass du da bist!" Sie umarmte ihren Onkel, noch bevor er dazu kam, sich von seinem Mantel zu befreien, und bemerkte dabei etwas in der Manteltasche, das Heinz jetzt hervorzog.
"Hab eine Flasche Wein mitgebracht."
Paul war ebenfalls herangekommen. "Nicht übel", stellte er nach einem Blick aufs Etikett fest. "Darfst gern öfter kommen. Auch ohne Stromausfall."
Heinz lachte sein meckerndes Lachen. "Mach ich glatt." Er warf einen Blick über Pauls Schulter. "Wenn ich geahnt hätte, dass es so voll bei euch ist ... Ich geh schnell noch eine Flasche holen."
"Untersteh dich", widersprach Paul. "Ich hab nicht nur mein Archiv in meinem Keller untergebracht. Setz dich, Kaffee kommt gleich."
Heinz nahm bei Jonas und Marlene Platz, während Kassandra feststellte, dass die Bratäpfel bald fertig sein würden. Sie schnitt Marlenes Kuchen auf, während Paul in Windeseile die letzten Zutaten für den Fischsalat in die Schüssel tat und die schon vorbereitete Marinade darüber gab.
"Wie gut, dass du den immer für eine ganze Brigade machst", sagte Kassandra lächelnd. "Das sollte für alle reichen."
"Stimmt", sagte Paul und lächelte zurück. "Und deine Bratäpfel sind so riesig, dass jeder was abbekommen wird." Er stellte den Salat in den Kühlschrank und kümmerte sich um den Kaffee, während Kassandra den Tisch deckte und mit Weihnachtsservietten und einer dicken roten Kerze dekorierte. Dann waren auch schon die Bratäpfel fertig, und kurz darauf saßen alle plaudernd um den Tisch. Gerade als Paul die zweite Kanne Kaffee aufsetzte, klingelte es wieder.
"Dieser Idiot hat mich doch echt sitzen lassen, einen Tag vor Weihnachten sagt er mir, dass er nun doch zu dieser blöden Konferenz nach New York muss, kann man das fassen, ich weiß, es ist Heiligabend und so, und ihr habt bestimmt Besseres zu tun, aber wenn ich allein zu Hause bleibe, fällt mir echt die Decke auf den Kopf, kann ich vielleicht ein Stündchen bei euch bleiben?", fragte Violetta, einen verzweifelten Ausdruck auf ihrem Gesicht.
"Logisch, du Arme, komm rein!", sagte Kassandra und wusste nicht, ob sie diesen blonden Supertyp namens Piet, mit dem ihre Freundin seit zwei Jahren zusammen war und der ständig für seinen Job um die Welt jettete, verfluchen sollte, weil er Violetta schon wieder einen Feiertag verdarb. Oder ob sie sich fragen sollte, wer als Nächstes bei Ihnen auf der Matte stand. Violetta ließ ihr wenig Zeit, eine Antwort darauf zu finden.
"Danke, das ist total …“ Sie stockte, als ihr Blick auf den Kaffeetisch fiel. „Oh, wow, hallo alle miteinander, ist ja echt voll hier, feiert ihr was, außer Heiligabend, meine ich?“
Jeder wollte Violetta aufklären, sodass alle durcheinanderredeten – und Kassandra meinte ganz kurz, ein erneutes Klingeln zu hören. Aber nein, das existierte nur in ihrer Einbildung. Oder ein Engel bekam gerade seine Flügel. Oder … Da klingelte es noch mal. Sie wechselte einen irritierten Blick mit Paul, doch der zuckte nur belustigt mit den Schultern, während er Violetta ein Stück von Marlenes Erdnussbutterschokoladenkuchen auftat. Die Bratäpfel waren schon alle.
Kassandra öffnete, stand vor Bruno – und vor Pauls Mutter Margarethe. „Wenn du den Mund wieder zu kriegst, Kassandra, darfst du uns gern reinbitten. Ist etwas kühl draußen“, sagte Bruno grinsend, und auch Margarethe lächelte verschmitzt, als sie eintrat.
„Paul!“, rief Kassandra.
Er schaute herüber und verharrte mitten in der Bewegung. Seine Mutter lebte in Schwerin und war seit vielen Jahren nicht mehr in Wustrow gewesen. Er und Kassandra wollten am zweiten Feiertag hinfahren – und nun… Er stellte die Kaffeekanne auf den Tisch, ging langsam auf Margarethe zu und schloss sie wortlos in die Arme, während die Gesellschaft am Tisch kurz verstummte, aber gleich darauf mit Bruno wieder ins muntere Plaudern verfiel. Kurze Zeit später saß auch Margarethe mit am Tisch, trank Kaffee und lobte Marlenes Kuchen.
Paul winkte Kassandra in den Küchenbereich. "Jetzt dürfte der Fischsalat definitiv nicht mehr für alle reichen. Aber ich hab da noch ein paar Sachen im Kühlschrank, wir könnten nach dem Kaffee was daraus zaubern. Zusammen ginge das ganz schnell."
Bei dem Wort "zusammen" und Pauls Blick dabei wurde Kassandra warm ums Herz. "Machen wir."
Paul hob die Hand und strich mit dem Zeigefinger über ihre Wange. Einen Augenblick lang verharrten sie so, bis ein lautes Jauchzen von Sophie, die gerade den Baum bewunderte, sie in die Gegenwart zurückbrachte. Gemeinsam nahmen sie wieder bei ihren Freunden Platz. Alle redeten und lachten, tauschten Weihnachterinnerungen aus, Bruno erzählte eine wunderbare Geschichte von seinem ersten Weihnachten nach dem Krieg, als er noch ein Kind gewesen war. Die Stunden verflogen nur so – um den Tisch herum, beim Betrachten des leuchtenden Baumes und schließlich in der Küche, wo Paul und Kassandra Hand in Hand arbeiteten. Schweigend. Weil sie dem Stimmgewirr zuhörten, und weil sie nicht zu reden brauchten, sondern sich wortlos verstanden. Es war ein gutes Schweigen – wie es immer gewesen war.
Kurz vor Mitternacht waren sie wieder allein. Margarete übernachtete bei Bruno, sie alle vier würden den ersten Feiertag gemeinsam verbringen, am zweiten würden noch Heinz und Kassandras Vater Harald dazustoßen. Aber erst mal, in dieser Nacht, waren Kassandra und Paul wieder allein. Dicht nebeneinander saßen sie auf dem Sofa und betrachteten den Baum.
„Glaubst du das mit dem Stromausfall?“, fragte Paul leise.
Dass halb Wustrow plötzlich ohne Strom war, war tatsächlich schon vorgekommen, dennoch schüttelte Kassandra den Kopf. „Außerdem ist mir eingefallen, dass ich Violetta vor drei Tagen im Nah und Frisch getroffen habe. Ich kam dazu, als sie mit einer Bekannten klönte, und ich bin mir ziemlich sicher, sie hatte ihr gerade eben erzählt, dass Piet über Weihnachten zu einer Konferenz muss.“
Paul nickte wenig überrascht. „Und irgendwas sagt mir, dass meine Mutter und Bruno auch nicht zufällig aufgetaucht sind.“
Lächelnd griff Kassandra nach seiner Hand, dabei fiel ihr Blick auf den Weihnachtsbaum. Sie selbst hatte vorhin in einem ruhigen Moment ihr Geschenk für Paul geholt und es unter den Baum gelegt, und nun sah sie, dass dort noch ein Päckchen lag.
Pauls Blick war ihrem gefolgt. „Sehen wir nach, was der Weihnachtsmann gebracht hat?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er sie vom Sofa, nur um sich drei Schritte weiter mit ihr direkt neben dem Baum wieder niederzulassen.
Kassandra beugte sich vor, nahm das in rotem Papier und silberner Schleife eingewickelte Geschenk für Paul und hielt es ihm hin.
Er ließ sich Zeit mit dem Auspacken – und dann schaute er eine Weile sprachlos auf den dünnen, sehr alten Band, den er in den Händen hielt: die russische Originalausgabe von „Das Purpursegel“ aus dem Jahr 1923.
Kassandra hatte die deutsche Übersetzung dieser Erzählung einmal zufällig in einem Antiquariat entdeckt und war nach dem Lesen ganz berührt gewesen. Wenn es überhaupt einen Schriftsteller gab, der so wunderbar poetisch schrieb wie Paul, dann war es Alexander Grin. Sie hatte damals nicht gewusst, dass Paul „Das Purpursegel“ liebte – und vor allem hatte sie nicht gewusst, wie viele Ähnlichkeiten es gab zwischen ihm und Grin. Nicht nur denselben Vornamen, unter dem Paul seine Romane veröffentlichte. Auch Grin hatte einen Gefängnisaufenthalt hinter bringen müssen und vieles im Leben ausprobiert, bevor er die Leidenschaft fürs Schreiben für sich entdeckte.
Paul musste nichts sagen, Kassandra erkannte es an seinen Augen, wie viel ihm dieses Geschenk bedeutete. Schließlich reichte er ihr seines für sie. Eine kleine Schachtel, in silbernes Papier mit roter Schleife verpackt.
Auch Kassandra löste Schleife und Papier ganz vorsichtig. Eine rotes Kästchen kam zum Vorschein. Langsam hob sie den Deckel. Auf schwarzem Samt lag ein silberner Anker. Er war wunderschön – und von solcher Symbolik, dass Kassandra schlucken musste.
Sie sahen einander an, ihre Blicke hielten sich fest – und es wurde eine sehr, sehr lange heilige Nacht.