Fischland-Verrat - Leseprobe

Sven hatte einigermaßen locker zurückgelehnt dagesessen, jetzt richtete er sich auf und starrte Kassandra provozierend an. »Ich bin hier, um eine Schuld einzutreiben.«
»Schuld?« Als Kassandra ihn im Gefängnis besucht hatte, war das aus einer Not heraus geboren gewesen. Sie hatte gehofft, von ihm Informationen über Sascha zu bekommen, und Sven hatte ihr tatsächlich ein paar Dinge erzählt – von denen ein Teil allerdings schlicht gelogen gewesen war. »Von mir? Wenn ich dich erinnern darf: Du hast mir damals nicht nur Nützliches verraten, sondern auch einen ziemlichen Bären aufgebunden.« Sie unterließ es, ihm zu sagen, dass sie ihn dabei schnell durchschaut hatte. »Nicht zu reden von dem Ärger, den ich bei anderer Gelegenheit mit der Polizei hatte, weil du die über ein winziges Detail mich betreffend angelogen hattest. Ich denke, wir sind quitt.«
»Quitt nennst du das?« Sven hielt es nicht mehr im Sessel. Er baute sich vor Kassandra auf. »Deine Aussage hat dazu beigetragen, dass ich fünf Jahre lang jeden einzelnen Tag durch die Hölle gegangen bin – und glaub mir, im Knast haben die Tage achtundvierzig Stunden, keine läppischen vierundzwanzig. Du bist mir eine Menge schuldig!«
Obwohl Sven ihr wenig Raum ließ, erhob sich Kassandra, damit er nicht länger auf sie heruntersehen konnte. »Ich dachte eigentlich, das Thema hätten wir hinter uns.« Ihre Stimme war ebenso laut wie die von Sven, und es war ihr vollkommen egal, dass die Terrassentür offen stand und man das draußen hörte. »Du bist für nichts verurteilt worden, was ich getan habe, sondern für das, was du getan hast. Als wir uns das letzte Mal sahen, kam es mir eigentlich so vor, als hättest du das endlich eingesehen.«
»Du hast keine Ahnung, was in mir vorgeht!«, donnerte Sven. »Jetzt tu bloß nicht so, als wärst du eine Heilige. Nistest dich in diesem Dorf ein, fast noch mit Blick auf diese verfluchte Seefahrtschule, mit der ich überhaupt erst anfing, den Bach runterzugehen. Fandest du wohl besonders gelungen, was? Aber das ändert alles nichts, du bist mir was schuldig«, wiederholte er, kaum ruhiger als zuvor. »Du und das Fischland, ihr seid mir beide was schuldig. Ihr werdet mir helfen!«
Sven musste übergeschnappt sein, kein Zweifel. Kassandra war fassungslos ob seiner absurden Forderung und spürte zu ihrer Überraschung, dass sich ein Lachen in ihr emporkämpfte. Es gelang ihr nicht, es zu unterdrücken, es platzte aus ihr heraus. »Und was willst du vom Fischland? Wobei sollen die Wustrower dir helfen? Sven, wach auf. Die werden dich zum Teufel jagen, und das zu Recht.«
So laut, wie Svens Stimme eben noch gewesen war, so leise wurde sie jetzt. »Du lachst mich aus?« Ein Schritt genügte, er stand vor dem Tisch, griff nach der Vase und schleuderte sie aufs Parkett. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Glas zersplitterte in tausend Teile, Wasser spritzte durch den Raum, die Sonnenblumen landeten in der Lache zwischen den Scherben. »Wag das ja nicht!«, brüllte Sven und kam auf sie zu.
Kassandras Instinkt befahl ihr, ihm auszuweichen, raus in den Garten zu laufen. Sie war nicht schnell genug. Er packte sie an den Schultern und schubste sie in den Sessel zurück, drückte ihre Arme auf die Lehnen und starrte sie an, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Die Zeit schien stillzustehen. Kassandra versuchte, in Svens Augen zu lesen, was er dachte, doch sie sah nur, dass er dasselbe bei ihr versuchte. Dann hörte sie ein Geräusch. Sven wurde von ihr fortgerissen, so heftig, dass sie beinah aus dem Sessel gerutscht wäre, weil er sich zuerst an ihr festklammerte.
»Wenn du sie noch ein einziges Mal anfasst, wirst du dich zurück in den Knast wünschen!«
Kassandra spürte mehr als dass sie sah, wie Sven um sein Gleichgewicht kämpfte. Als er es fand, wollte er sich auf seinen Angreifer stürzen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Er war über zwanzig Jahre jünger und hätte ihn unter anderen Umständen wahrscheinlich überwältigen können, aber gegen die sehr scharfe und sehr spitze Heckenschere, die auf ihn gerichtet war, hatte er keine Chance.
Sven atmete durch und fing sich. »Heinz Jung, richtig? Sie wissen ja selbst ziemlich gut, wie es sich anfühlt im Gefängnis. Jedenfalls sahen Sie nicht sonderlich glücklich aus da drin – war sicher für einen ehemaligen Polizisten erst recht keine Freude.«
»Verschwinde«, sagte Kassandras Onkel, ohne auf die Provokation einzugehen, die sich darauf bezog, dass er kurzzeitig in Stralsund in Untersuchungshaft gesessen hatte. »Sofort.«
»Sonst was?«
Heinz machte einen Schritt auf ihn zu. »Sonst könnte ich mich entschließen, die zweckzuentfremden.« Er wog die Heckenschere in seiner Hand.

 

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