Kassandra drehte sich um und sah dabei, wie sich auf einem strahlend gelb blühenden Ginsterbusch ein Schmetterling niederließ. Was für ein Bild!
Instinktiv tat sie alles auf einmal: die Kamera in Position bringen, zoomen, zwei Schritte zur Seite treten. Mit einem Mal gab der Boden unter ihr nach, sie schrie auf, klammerte sich an ihre
Kamera, als könne die ihr Halt und Gleichgewicht zurückgeben, Schwindel erfasste sie, Panik, wieder wollte sie schreien, bekam keinen Ton heraus. Da spürte sie, wie zwei kräftige Hände nach ihr
griffen und sie fortzogen von dem Nichts unter ihren Füßen.
»Zum Donnerwetter, Kassandra!«, brüllte Paul. »Wie oft hab ich dir gesagt, dass du aufpassen sollst!«
Ganz allmählich fiel die Panik von ihr ab, bekam sie wieder Luft, wurde das Tosen in ihren Ohren leiser und ihr Herzschlag ruhiger. »Tut mir leid«, krächzte sie dennoch mühsam. Sie sah auf und
begegnete Pauls gleichermaßen wütendem wie besorgtem Blick. »Danke. Ohne dich ... Du hast ...« Ihr versagte die Stimme.
»Schon gut«, sagte Paul leise. »Versprich mir einfach, dass du nicht noch mal so leichtsinnig bist.« Sein Zeigefinger strich sanft über ihre Wange, dann zog er sie dicht zu sich heran.
»Versprochen«, murmelte Kassandra.
Hoffentlich, dachte Paul. Der Schreck, der durch seine Glieder gefahren war, als er gesehen hatte, wie Kassandra beinah zusammen mit dem lehmigen Boden das Hohe Ufer hinabgestürzt wäre, saß tief.
Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr losgelassen, aber es war besser, kein Drama daraus zu machen. So dankte er nur still dem Schicksal, dass er schnell genug bei ihr gewesen war.
»Geht's wieder?« Er schob sie ein Stück von sich und musterte sie.
Kassandra nickte. Nach und nach bekamen ihre Wangen Farbe, sie tastete nach ihrer Kamera, die an einem Riemen um ihren Hals hing. Vielleicht war ihr ein Objektiv oder ein Verschluss
abhandengekommen, er hatte nicht darauf geachtet.
»Noch alles dran?«
Wieder nickte sie, ihre Finger betätigten ein paar Knöpfe, um die Funktionen zu überprüfen. Oder um etwas ganz Normales zu tun und den Schock zu verbannen.
»Oh«, machte sie da und verzog das Gesicht.
»Was?« Alarmiert berührte Paul ihre Schulter. »Ist dir schwindelig?«
»Nein. Ich muss im Fallen auf den Auslöser gedrückt haben. Das ist dabei rausgekommen.« Sie hielt ihm die Kamera hin. »Sieht verrückt aus, im wahrsten Sinn des Wortes.«
Paul schaute aufs Display. Man sah, dass das Bild in Bewegung aufgenommen worden war, es wirkte noch dazu, als sei das Motiv schräg auf den Kopf gestellt. Der Himmel klebte am unteren Bildrand,
die Abbruchkante und die herabstürzende Erde waren gerade noch zu sehen, ein Stück des schmalen Weges mit der frischen Abbruchlawine war oben zu erkennen und darüber ein winziges bisschen Blau
der See.
»Zumindest ungewöhnlich«, kommentierte Paul. »Verpass dem Foto das Label Kunst statt Verwackelt, dann verkauft es sich bestimmt gut.«
Kassandras Lächeln war fast schon wieder normal. Sie schaute noch einmal aufs Display, runzelte plötzlich die Stirn, nutzte die Touchfunktion, schluckte, schnappte nach Luft – und ließ die Kamera
fallen.
Reaktionsschnell fing Paul sie auf, achtete aber mehr auf Kassandra. Ihre Hände zitterten, aus ihrem Gesicht war erneut alle Farbe gewichen. Beunruhigt schaute er aufs Display. Die
Ausschnittvergrößerung zeigte einen Arm, der aus der Abbruchlawine hervorragte. Verwaschen zwar, aber dennoch eindeutig ein Arm – mit einer schlanken Frauenhand, die ihnen wie zum Gruß
zuwinkte.
»Großer Gott«, wisperte er und bemerkte gleichzeitig aus den Augenwinkeln, wie Kassandra sich wieder auf die Abbruchkante zubewegte.
»Halt!«, rief er und riss sie zurück.
Wie betäubt starrte sie ihn an, als hätte sie ihn überhaupt nicht gehört.
Er drückte ihr die Kamera in die Hand. »Du rührst dich nicht vom Fleck, klar?«
Wie in Trance nickte sie. Er spürte, dass ihr Blick seinen Bewegungen folgte, als er sein Telefon hervorholte und mit seiner Meldung über eine verschüttete Person eine ganze Maschinerie in Gang
setzte: die Feuerwehren von Wustrow und Ahrenshoop, ein Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug wurden zeitgleich alarmiert. Wenn alles glatt lief, würde der RTW aus Dierhagen gleichzeitig
mit den Feuerwehren am Strandübergang 1 ankommen. Der lag der Unfallstelle, die Paul so genau wie möglich beschrieben hatte, am nächsten. Das Sanitäterteam würde dann mit allen Gerätschaften auf
die Barsch geladen, das Boot der Seenotrettung, die ebenfalls verständigt worden war. Über die See gelangten die Retter am schnellsten zum Unfallort.
Paul trat wieder zu Kassandra und nahm sie in die Arme. »Hilfe ist unterwegs.«
Reglos starrte Kassandra zum Horizont. Vielleicht sah auch sie vor ihrem inneren Auge die Abläufe. Wie ein Teil der Wehrleute begann, die Frau auszugraben. Wie die Barsch wieder zurückfuhr, um
den Notarzt zu holen, der aus Ribnitz oder Barth kam und deshalb erst später abgeholt werden konnte. Wie er schließlich gebracht wurde. Wie er helfen konnte – oder nicht.
In seinen Armen begann Kassandra stärker zu zittern. Paul versuchte, sie zu beruhigen, aber er drang nicht zu ihr durch.
»Was hab ich getan?«, flüsterte sie heiser. »Warum hab ich nicht auf dich gehört? Wenn die Hilfe zu spät kommt ... Wenn sie tot ist ... Wenn ich sie auf dem Gewissen habe ...« Sie löste sich aus
Pauls Umarmung. »Wir müssen da runter, wir müssen etwas tun! Das dauert doch alles viel zu lange!«
Schon wollte sie sich in Bewegung setzen. Nur dass Paul sie erneut festhielt, verhinderte das. »Es hilft niemandem, wenn wir runterklettern, damit noch mehr Lehm und Geröll lösen und nicht nur
uns selbst, sondern auch die Frau weiter begraben.«
»Ja, ich weiß. Aber ...« Kassandra verstummte. Eine Weile blieb sie still, dann sah sie auf die Uhr. »Wo bleiben die denn, wieso dauert das so ewig?«
»Es sind gerade fünf Minuten vergangen, Liebes.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Ich kann hier nicht stehen bleiben. Lass uns eine Stelle suchen, von wo aus wir wenigstens ein bisschen sehen können, was da unten passiert.«
Paul war sich nicht sicher, ob es gut war, bei der Rettungsaktion zuzuschauen, wenn auch nur von Weitem. Dennoch ahnte er, dass es keinen Sinn hatte, Kassandra ihr Vorhaben auszureden. So
beobachteten sie schließlich von einem einigermaßen sicheren Standpunkt aus, wie in der Ferne ein Boot mit Höchstgeschwindigkeit über die Wellen heranrauschte und kurz darauf Männer und
Gerätschaften an dem schmalen Streifen zwischen Wasser und Ufer anlandeten. Einer der Männer war Jonas, Kassandras Nachbar und schon seit vielen Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr. Mit seinen
Kameraden begann er, die Erdmassen über der Frau abzutragen.
Paul griff nach Kassandras Hand und spürte ihr Zittern, während sie mit aufgerissenen Augen die Ereignisse verfolgte. Wie sie befürchtete er das Schlimmste. Wäre noch Leben in der Frau gewesen,
hätte sie selbst versucht, sich zu befreien. Andererseits war sie vielleicht ohnmächtig und hatte unter dem Geröll in einem winzigen Luftloch atmen können. Man durfte nie zu früh die Hoffnung
aufgeben.
Schließlich lag die Frau so frei, dass ein Sanitäter nach ihr sehen konnte. Das Geschehen war zu weit weg, um ihr Gesicht oder das Mienenspiel der Rettungsmannschaft zu erkennen, doch es gehörte
nicht viel dazu, die Haltung der Männer zu deuten, die mit einem Mal keine Anspannung mehr ausdrückte, sondern Resignation. Alle traten ein klein wenig zurück von der Unglückstelle. Jonas schaute
auf, als ob er sich nun die Zeit nahm, sie beide oben auf dem Hohen Ufer zu suchen. Er hob kurz die Hand, wurde jedoch gleich wieder abgelenkt von dem sich erneut nähernden Boot mit dem Notarzt
an Bord, dem nichts mehr bleiben würde, als den Tod der Frau festzustellen.
Paul bekam nicht mit, wie das geschah. Seine Aufmerksamkeit galt Kassandra, die stärker zitterte als je zuvor an diesem schönen sonnigen Tag.
»Was hab ich getan?«, wisperte sie. »Oh Gott, was hab ich nur getan?«
»Schsch«, machte Paul. Er hörte ihre Zähne klappern, merkte, dass ihre Beine plötzlich nachgaben, und hielt sie doppelt fest. Er wusste, was in ihr vorging.
»Schsch«, machte er erneut. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Doch«, brachte sie hervor. Ein Wort nur, kaum zu verstehen.
»Du musst hier weg, Liebes.« Er wollte sie mit sich ziehen, sie schien wie festgewachsen. »Bitte, Kassandra. Es kommt alles in Ordnung, versprochen.« Was für einen Blödsinn redete er da? Aber was
sagte man nicht alles, um jemanden zu beruhigen? Selbst wenn es keine Beruhigung gab.
Da brach es auch schon aus ihr heraus. »In Ordnung?« Sie stieß ihn von sich. »Was soll da wieder in Ordnung kommen? Wie soll ich damit weiterleben?« Bitter lachte sie auf. »Na ja, ich lebe
wenigstens weiter, während ...« Sie stockte.
»Kassandra ...«
»Nichts Kassandra!« Sie holte tief Luft. »Ich habe einen Menschen getötet!« Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre nächsten Worte waren schwerer zu verstehen. »Eine unschuldige Frau, die jetzt
einfach nicht mehr da ist, die vielleicht Familie hat, Kinder, Menschen, die sie lieben und ...«
Bevor Paul es verhindern konnte, brachen ihre Beine unter ihr weg, sie glitt zu Boden und schluchzte hemmungslos.
Neugierig geworden? Dann: