Fischland-Fluch - Leseprobe

Fischland-Fluch Fischland Ostsee Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburg Urlaub Krimi Regiokrimi Spannung

Kassandra fror. Sie wollte die Arme um ihren Körper schlingen, aber ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Was war passiert? So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht erinnern. Sie sah Paul vor sich. Saß er in einem Auto? Oder doch zu Hause? Oder war das gar nicht Paul? War das Heinz? Oder Bruno? Harald? Die Gesichter verschwammen, vermischten sich, vollführten einen seltsamen Tanz, so wild, dass ihr schwindelig und übel wurde.
Dann wirbelten ihre Knochen durcheinander. Oder war das auch bloß Einbildung? Nein. Unter ihr rumpelte es, sie rollte von rechts nach links über ihre Handgelenke. Es tat weh. Unvermutet drang leise Musik durch die stockdunkle Umgebung. Musik? Sie musste sich täuschen. Wieder rumpelte es. Ihr Kopf schlug gegen etwas Hartes. Die Übelkeit verschlimmerte sich, sie würde sich übergeben müssen! Von irgendwo kam ein Luftzug, sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, ruhig zu atmen, ihr Gesicht der frischen Luft zuzuwenden. Aber sie konnte nicht ausmachen, wo sie herkam. Da hörte sie eine Stimme. Jemand sang. Zu der Musik? Doch die war nicht mehr zu hören. Was war bloß ... Weshalb konnte sie sich nicht erinnern? Ihr war so schrecklich übel! Sie würde ... Sie musste ... Sie ... konnte ... nicht mehr ... denk–
»Na los schon, warum machst du dich so schwer?«, schimpfte eine Stimme. »Hilf mit!«
Wer redete da? Wie viel Zeit war vergangen? Wobei sollte sie helfen?
Kassandras Körper vollführte Purzelbäume, jedenfalls fühlte es sich so an. Sie blinzelte, grelles Licht blendete sie, schnell schloss sie die Augen wieder, sah die Äderchen im Rot ihrer Lider, dann war das Licht fort. Ihr Körper wurde wieder herumgeworfen, das Blut stieg ihr zu Kopf.
»Herrgott, du bist doch bloß so mager, weshalb wiegst du ganze Tonnen?«, schimpfte die Stimme erneut. »Ich hasse es, zum Schwitzen gebracht zu werden.«
Schwitzen?, dachte Kassandra. Mir ist kalt. Und übel. Wo bin ich? Was passiert mit mir? Sie schauderte, versuchte, ihre Beine und Arme zu bewegen und herauszufinden, warum sie kopfüber auf einem Klettergerüst hing. Aber sie konnte sich nicht rühren, alle Gliedmaßen waren taub, nur die Finger kribbelten. Und ihre Kopfhaut. Und ihr war so furchtbar schlecht. Sie öffnete den Mund – Flüssigkeit schoss heraus.
»Scheiße, was soll das?«, fluchte die Stimme. »Kotzt du auf meine Hose, oder was? Sauerei! Kein Mensch hat gesagt, dass das Zeug diese Wirkung hat, bloß Bewusstlosigkeit und Amnesie.«
Amnesie. Dieses schreckliche Wort hallte in Kassandra wider, während sie sich fragte, wer der Mann war, auf dessen Hose sie sich übergeben hatte. Beides wurde nahezu unwichtig, als ein neuer Schauder durch ihren Körper fuhr. Gott, war ihr kalt und schwindelig und immer noch übel. Der Geruch, den sie um sich herum wahrnahm, machte es nicht besser. Muffig. Feucht. Die Kälte drang durch ihr Kleid und legte sich auf die Haut. Kleid? Wieso trug sie ein Kleid? Sie trug so was nur zu festlichen Anlässen. Das hier fühlte sich nicht nach einer Feier an. Es fühlte sich schrecklich an, und sie war sich nicht sicher, ob die Gänsehaut, die über ihren Rücken lief, von der Kälte oder der Angst herrührte.
Erneut versuchte sie, die Augen zu öffnen. Diesmal blendete nichts, das Licht war diffus, sie erkannte nackte, raue Wände, hier und da ein seltsames Muster, Geröll auf dem Boden, es knirschte unter den Schritten desjenigen, der sie trug. Der sie trug! Endlich verstand sie, dass sie über jemandes Schulter hing.
Dieser Jemand blieb stehen, murmelte etwas, lockerte den Griff um ihren Körper. Sie versuchte, sich loszureißen.
»Hey, hey, keine Fisimatenten, ja?« Er griff wieder fester zu. Etwas klirrte. Ein Schlüsselbund? Der Mann machte ein paar Schritte, es wurde wieder dunkler.
Wo war sie? Wer war der Mann? Seine Stimme kam ihr vage bekannt vor, aber sie konnte sie nicht einordnen. Sie konnte gar nichts einordnen. Was hatte er mit ihr vor? Und warum geschah das alles mit ihr?
Plötzlich rutschte sie von der Schulter, sie wollte sich festhalten, nicht mit dem Kopf aufprallen. Der Unbekannte hielt sie fest und ließ sie dann langsam zu Boden gleiten. Ihre Hände fassten in kleine Steinchen und Erde. Feuchter Schutt, feuchte Erde.
Seine Schritte entfernten sich, eine Tür knallte. Metall? Etwas klickte. Ein Schloss? Die Tür war nicht schalldicht, die Schritte wurden leiser, bis nichts mehr zu hören war. Angestrengt lauschte Kassandra trotzdem weiter. Da war ein dumpfes Rauschen in weiter Ferne. Sie wünschte, es wäre das Rauschen der See, das hätte etwas Tröstliches in dieser dunklen Einsamkeit, in der sie kaum einen Schemen ausmachen konnte. Tränen stiegen in ihre Augen, rollten ihre Wangen hinunter, sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen, wollte die Tränen zurückbeißen, aber das funktionierte nicht, sie kamen unkontrolliert, ihr Körper bebte, sie schluchzte. Was um alles in der Welt ... Da begriff sie, schnappte erleichtert nach Luft. Ein Alptraum. Natürlich, das hier war ein Alptraum. Sie würde gleich aufwachen.
Aber sie wachte nicht auf. Stattdessen hörte sie wieder Schritte. Kam der Mann zurück? Nein, warum sollte er, er hatte sie garantiert für länger als zehn Minuten hier eingesperrt. Es musste jemand anders sein, jemand, der ihr helfen konnte. Sie holte tief Luft und wollte aus Leibeskräften »Hilfe!« brüllen. Heraus kam nicht mehr als ein schwaches Rufen.
Das genügte jedoch, die Schritte hielten inne.
Sie rief erneut. »Bitte, helfen Sie mir!«
Die Schritte kamen näher.
»Ich bin hier, unter der Erde«, versuchte sie es ein drittes Mal und dachte: Wie absurd, unter der Erde, niemand wird mich finden. Doch die Schritte stoppten unmittelbar vor der Tür.
»Hier«, wisperte sie kraftlos, weil sie hörte, dass jemand mit einem Schlüssel hantierte. Keine Hilfe. Ihr Wärter.
Der Mann hatte eine Taschenlampe, doch er achtete darauf, dass kein Licht auf ihn fiel. Stattdessen blendete er sie mit dem Strahl. »Ich werde dich knebeln müssen«, sagte er. »Aber vorher trink was.« Er nahm die Lampe weg und hielt ihr eine Wasserflasche hin.
Erst jetzt merkte sie, wie ausgedörrt ihre Kehle war, trotzdem wagte sie nicht zu trinken.
»Du sollst trinken!«, fuhr der Mann sie an. Er schaltete die Lampe aus, umfasste ihr Kinn mit der Rechten und zwang sie, ihren Mund zu öffnen.
Das Wasser rann zur Hälfte ihren Hals, zur anderen Hälfte ihre Kehle hinunter. Es tat so unendlich gut. Sie vergaß ihre Angst und schluckte gierig.
»Na bitte, geht doch.« Der Mann nahm die Flasche erst wieder weg, als sie leer war. Übergangslos stopfte er ihr ein Tuch in den Mund. »Tut mir leid, du machst sonst zu viel Radau, aber ich binde dafür deine Arme los. Lass dir nicht einfallen, auf mich loszugehen, sonst hattest du die längste Zeit Bewegungsfreiheit.«
Kassandra nickte, schüttelte den Kopf, unsicher, was richtig war. Jedenfalls hielt sie still, obwohl das Tuch im Mund sie wieder würgen machte. Sie musste dieses Gefühl unterdrücken. Wenn sie sich übergab, würde sie ersticken. Doch es gelang ihr nicht, der Würgereiz war zu groß, sie bekam keine Luft mehr. Panisch riss sie die Augen auf.
»Stell dich nicht so an, du Kröte!«
Kassandra wollte protestieren, sagen, dass sie ernsthaft Atemnot hatte, ihn bitten, den Knebel wegzunehmen, aber sie sah nur noch Sternchen.
Mit einem Ruck war der Knebel weg, so gierig, wie sie das Wasser getrunken hatte, sog sie Luft in ihre Lungen. »Danke«, brachte sie heraus.
»Ist ja nicht mehr viel übrig von der taffen Frau, die du warst, was?«, stellte er hämisch fest.
Verständnislos starrte sie auf seine dunkle Gestalt.
»Vergiss es, dein Hundeblick kriegt mich nicht klein.« Er warf etwas nach ihr. Eine Decke.
Sie zog sie zu sich heran, überrascht, wie weich sie war. Weich und warm. Während sie ihren zitternden Körper darin einwickelte, beobachtete sie die Umrisse des Mannes und bemerkte, dass er gebückt stand. Sie schaute hoch. Dieser merkwürdige Keller war zu niedrig für ihn.
»Wenn du schreien solltest, ist es aus mit meiner Rücksicht, keine Decke, kein Tropfen Wasser. Wir sind nie weit entfernt, einer von uns wird dich immer hören – bis zum bitteren Ende.« Der Mann trat zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Auge um Auge.«
Die Tür knallte zu, ein Schloss wurde vorgelegt, Schritte entfernten sich. In die Decke gehüllt lehnte Kassandra sich erschöpft an die raue Mauer und hörte in einer Endlosschleife: Bis zum bitteren Ende. Auge um Auge.
Sie fürchtete die Bedeutung des ersten Satzes und begann hemmungslos zu schluchzen. Sie sollte also hier sterben. Weshalb sich noch den Kopf über die Bedeutung des kryptischen zweiten Satzes zerbrechen? Als ihre Schluchzer versiegten wie ihre Tränen, als sie völlig leer und ausgebrannt war, spürte sie, dass sie die Antwort kennen sollte. Gleichzeitig wusste sie, dass dieses Zeug, das sie intus hatte, bewirkte, dass ihr Stunden, vielleicht sogar Tage fehlten und verloren bleiben würden. Da war ein tiefes, schwarzes Loch und sonst gar nichts. Sie stürzte hinein und starb darin, Stück für Stück für Stück.

 

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