Fischland-Falle - Leseprobe

Fischland-Fluch Fischland Ostsee Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburg Urlaub Krimi Regiokrimi Spannung

Die schreckliche Angst davor, mit zerfetzter Kehle im Rumpf der Stinne zu enden, verlieh Kassandra ungeahnte Kräfte. Sie sprang hoch, wollte Raimund von sich stoßen, fasste ins Leere, schrie, hörte ihren Schrei über das dröhnende »You Are the Sunshine of My Life« kaum selbst. Sie machte einen Schritt rückwärts, ihr Stuhl kippte lautlos nach hinten. Wieder berührte sie jemand, wieder Raimund? Panisch wehrte sie die Person ab. Sie wollte weg, weg von Raimund, weg vom Schiff, nach Hause, in Sicherheit, zu Paul. Paul! Um Himmels willen! Wo war Paul? Wenn ihm ...

Sie versuchte, sich vorwärtszubewegen, kam aber nicht weit, es war zu dunkel. Wenn doch nur endlich jemand diesen grässlich fröhlichen Song aus- und das Licht einschalten würde!
Ihre Gebete wurden wenigstens zum Teil erhört. Es wurde hell, so hell, dass es blendete. Instinktiv schloss Kassandra die Augen, wartete, dass auch die Musik aussetzte, doch das geschah nicht. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen.
Hätte Raimund Degenhard ihr jetzt sein Steakmesser in die Kehle gerammt, wäre kein Blut hervorgespritzt. Es wäre ihr zuvor in den Adern gefroren. Aber Raimund würde das nicht tun. Er würde überhaupt nichts mehr tun. Sein Körper war über dem Tisch zusammengesunken, sein Kopf lag auf der linken Seite, in seiner rechten Schläfe prangte ein kleines Loch.
Unfähig, sich zu bewegen, konnte Kassandra nicht den Blick von ihm abwenden. Erst als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, machte sie einen Satz zur Seite und wäre gefallen, hätte Paul sie nicht gehalten. Gemeinsam starrten sie zu »You Are the Sunshine of My Life« auf Raimund.
Dann verstummte Stevie Wonder genauso plötzlich wie zuvor das Licht angegangen war. Im ersten Augenblick war die Ruhe so unwirklich, dass sie in Kassandras Ohren dröhnte. Langsam jedoch nahm sie Geräusche wahr: Füßescharren, Stimmengemurmel der anderen, einen erschrockenen spitzen Schrei, der in ein nervöses Kichern mündete – das alles untermalt vom knarzenden Holz der Stinne.

Kassandra spürte Pauls Wärme, war unendlich dankbar, dass ihnen und, wie sie nach einem kurzen Rundblick feststellte, auch sonst niemandem etwas passiert war. Sie erschauderte. Niemandem außer Raimund.
 »Ich gebe zu, mit ihm als Opfer hab ich nicht gerechnet«, sagte Pechstein und sprach damit aus, was Kassandra dachte.
Raimund war ein unlogisches Opfer. Jedenfalls nach allem, was sie bisher gemutmaßt hatte. Sie schluckte und wandte ihren Blick von ihm ab, wieder zu Pechstein. Der stand unverändert mit Magnus Brentano am Durchgang zur Kombüse neben einem Lautsprecher, das Steckerkabel noch in der Hand.
»Ich schon. Der war mir zu offensichtlich der Mörder«, sagte Mike, kam einen Schritt näher und reckte den Hals. »Sieht beinah echt aus.« Er zog sich wieder zurück. »Also, dann sollten wir loslegen, schließlich haben wir ja alle Weihnachten noch was vor. Ist jemand Inspector Barnaby? Oder Sherlock Holmes? Gibt's überhaupt Regeln, außer dass wir verschiedene Teams sind? Welches fängt an und womit?«
»Zuerst mal rührt sich keiner von der Stelle«, sagte Paul und machte einen Schritt auf Raimund zu.
»Hey, hey!«, protestierte Mike. »Wenn du schon so viel Wert darauf legst, dass jeder bleibt, wo er ist, um daraus deine Schlüsse zu ziehen, solltest du dich an deine eigenen Regeln halten und uns anderen dieselbe Chance geben.«
»Ja, gleich. Ich will mich nur vergewissern.« Unbeirrt hatte Paul sich weiter auf Raimund zubewegt und suchte am Hals nach dessen Puls.
»Wozu? Tot ist tot«, ließ sich Pechstein vernehmen, der sich neben dem Lautsprecher an die Wand gelehnt hatte.
Magnus Brentano stand da wie zuvor und guckte unglücklich. Wahrscheinlich bedauerte er, dass sein Hauptgang auf den Tellern kalt wurde.
Kassandra dagegen hielt den Atem an, gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus, während Paul sich konzentriert über Raimund beugte. Was hatte Mike eben gesagt: Sieht beinah echt aus. Sie hegte keinen Zweifel, dass es echt war, und gab sich trotzdem für eine Sekunde der Illusion hin, sich zu irren.
Paul richtete sich wieder auf. »Er ist tot.«
»Na klar, ist doch der Sinn eines Krimi-Dinners, dass es eine Leiche gibt«, sagte Liza.
»Du verstehst nicht.« Pauls Ausdruck blieb ernst. »Raimund Degenhard ist wirklich tot.«
»Haha«, machte Mike.
Zeitgleich stieß sich Gunnar Pechstein von der Wand ab und sagte: »Nicht witzig.«
»Nein«, gab Paul ihm recht. »Den Schmauchspuren um das Einschussloch nach zu urteilen, wurde er aus nächster Nähe ermordet. Oder er hat sich selbst umgebracht, aber in dem Fall müsste irgendwo die Waffe liegen, und ich sehe hier keine. Wie auch immer – wir müssen die Polizei rufen.« Suchend glitt sein Blick durch den Raum. Kassandra schaute sich ebenfalls um und sah, wie Violetta kraftlos auf einen Stuhl sank und die Hände vors Gesicht schlug.
»Bist du sicher?«, fragte derweil Gerlinde erschrocken, und gleichzeitig stellte Jonas fast resigniert fest:
»Warum wundert mich das nicht?«
»Wo ist Nicola?«, kam Annis verängstigte Stimme aus dem Hintergrund. Sie hatte sich an den goldenen Samtvorhang geklammert und starrte mit aufgerissenen Augen zu Raimund hinüber.
»Das ist eine gute Frage«, sagte Paul. »Genau genommen scheint es mir gerade die relevanteste überhaupt.«
»Sehe ich anders«, sagte Mike. »Es wäre viel zu einfach, wenn Nicola die Mörderin wäre. Lass mich mal die ... äh ... Leiche untersuchen, vielleicht findet sich da ein Hinweis.«
»Mike!«, rief Liza entsetzt, als er sich auf Raimund zubewegte.
»Was?« Er drehte sich grinsend zu ihr um. »Du nimmst doch diesen Käse nicht für bare Münze?«
Paul machte einen Schritt rückwärts. »Wenn es nötig ist, dass du dich selbst vom Ernst der Lage überzeugst, bitte. Als Bestatter wirst du wohl wissen, wann jemand tot ist.«
Zum ersten Mal zeichnete sich Unsicherheit auf Mikes Gesicht ab. Zögernd tastete sein Finger nach dem Puls, und als er keinen fand, machte er einen Satz zurück. Leichen mochten sein täglich Brot sein – Mord nicht.

Jedenfalls, schränkte Kassandra in Gedanken ein, sollte es diesen Anschein erwecken.
»Zufrieden?« Paul wartete Mikes Antwort nicht ab, sondern wandte sich an Magnus Brentano, der bisher stumm wie ein Fisch geblieben war. »Wissen Sie, wo Nicola ist?«
Brentano schüttelte den Kopf, er sah blass aus, was seine schwarzen Haare noch unterstrichen. Sein Blick wanderte zu Anni. »Sie muss doch an dir vorbei sein, wenn sie den Raum verlassen hat.«
»Nein. Also ... kann sein. Ich weiß nicht. Ich habe mich so erschrocken, als die Musik an- und das Licht ausging.«
»Sie wussten nicht, dass das passieren würde?«, erkundigte sich Paul.
Wortlos schüttelte Anni den Kopf.
»Das habe ich befürchtet«, sagte Paul. »Aber wir diskutieren schon viel zu lange. Bitte holen Sie unsere Handys. Wir müssen endlich die Polizei rufen.«
Anni drehte sich um – und prallte vor einem lauten Knallen zurück.
Ein Schuss! Zu Tode erschrocken setzte Kassandras Herz einen Schlag lang aus, da wiederholte sich das Knallen. Noch einmal, und noch einmal, ein fünftes, sechstes und siebtes Mal, nicht nur in diesem Raum, auch anderswo auf der Stinne. Endlich begriff sie, dass es sich nicht um Schüsse handelte. Türen schlugen zu, Schlösser fielen ins Schloss, vor die Bullaugen fielen krachend schwarze Platten, Stahlriegel wurden vorgeschoben und rasteten mit lautem, unheilverkündendem »Klack« ein. Dann herrschte Totenstille.
Dies war ein Escape Room. Ein schalldichter Escape Room, denn selbst die Geräusche des Sturms waren vollständig verstummt. Und so, wie es geklungen hatte, war dies noch dazu ein Escape Room innerhalb eines Escape Rooms.
Sie saßen in einer doppelten Falle. Mit einer Leiche.

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