Meine Krimi-Spaziergänge wurden aus der Idee heraus geboren, meinen Leserinnen und Lesern die Schauplätze zu zeigen, an denen meine Fischländer leben und/oder Verbrechen aufklären. Einige davon kann man meinen Romanen relativ leicht selbst entnehmen, andere weniger - und manche habe ich schlicht erfunden. Zu Letzteren kommen wir gleich noch. ;-)
Nachdem es beim 1. Krimi-Spaziergang von der Seebrücke nach rechts durch den Park, zur Lindenstraße, weiter zur Kirche und bis nach Barnstorf ging, wandern wir heute nach dem Brückenabgang in die andere Richtung.
Ich halte mich auch hier an die Stationen des Spaziergangs von 2020. Wenn Ihr in anderen Jahren schon mitgegangen seid oder - was ich hoffe - irgendwann (wieder) mitgeht, seht Ihr einige andere Orte und hört entsprechend andere Texte dazu. Die erste Station bleibt wegen des Treffpunkts immer gleich, nur der Text variiert - und bei der letzten Station ändere ich gar nichts. Das passt einfach zu gut. ;-)
Los geht's!
1. Station
Swantewit auf der Seebrücke
"Fischland-Mord", Kassandras 1. Fall
Wie oft war sie in den vergangenen Nächten die Strandstraße heruntergelaufen – sie kam ihr im Dunkeln jetzt beinah vertrauter vor als bei Tageslicht. Trotzdem wurden ihre Schritte langsamer, je
näher sie der Seebrücke kam, vor deren Aufgang sie sich nach rechts wenden musste, wenn sie zu Paul wollte. Vor ihr ragte die Skulptur des Swantewit auf, dahinter lag die See. Kassandra wusste,
dass sie nur hinauszögerte, was sie zu tun hatte, aber sie stieg die Treppe zur Brücke hinauf, berührte kurz den vierköpfigen Gott – und sah weiter hinten jemanden am Brückengeländer
stehen.
Paul drehte sich um, im Begriff, sich eine Zigarette anzuzünden und dabei die Flamme vor dem Wind zu schützen. Er schaute hoch, sein Blick traf auf ihren und hielt ihn fest, bevor das Feuerzeug
erlosch und er die Zigarette zurück in das Päckchen steckte. Seine Bewegungen wirkten fahrig, ruhelos.
Langsam ging Kassandra auf ihn zu. Ihr Magen, ihr Herz, ihre Gedanken, die ungesagten Worte schlugen Purzelbäume. Dann stand sie vor ihm – und etwas in seinen Augen verriet ihr, dass es besser
war zu schweigen.
Paul sah sie lange an, bevor er das Schweigen brach. »Ist es nicht erschreckend, wie schmal der Grat ist, der richtig und falsch, gut und böse trennt?«
»Ja«, sagte Kassandra nach einer Weile, in der sie sich gefragt hatte, ob Paul Arnold meinte, Menning oder beide. Oder etwas ganz anderes. »Manchmal verwischt er sogar, und niemand weiß mehr, wo
gut aufhört und böse beginnt. Es gibt viel mehr Grau als Schwarz oder Weiß.«
»Grau«, sagte Paul gedankenverloren, und diese eine Silbe klang wie ein vielschichtiger Roman. Er wandte sich zur See.
Kassandra glaubte nicht, dass er den Strand, die Dünen oder die Wellenbrecher wahrnahm. Was hatte er vor einigen Stunden gesagt? Zu Arnold, dass er vielleicht dasselbe getan hätte wie er. Zu
Johannsen, dass er nicht nur in die Luft geschossen hätte, wenn es nötig gewesen wäre. »Paul. Du hast den Grat nicht überschritten.«
Er schaute wieder zu ihr und schwieg beinah so lange wie eben. Als er endlich etwas erwiderte, waren seine Worte so leise, dass die See sie fast verschluckte. »Nein. Nicht dieses Mal.«
2. Station
Zur Glippe/Rönnboom, Harald Barthels Haus
"Fischland-Verrat", Kassandras 4. Fall
(Anmerkung: Kassandras Vater legt wert auf Privatsphäre. Besonders im Sommer ist kaum was von seiner Villa zu sehen...)
Die zwei Männer in Barthels hell möbliertem Wohnzimmer trennte nur ein Glastisch, doch der wirkte wie eine von beiden Seiten willkommene Mauer. Barthel sah Dietrich von seinem Sessel aus
entgegen, der andere Mann hatte sich halb erhoben.
Dietrich blieb abrupt stehen, als er ihn erkannte, und auch Sven Larsen riss nach einem Moment der Irritation die Augen auf.
»Kassandra, du Biest!“, wetterte er. „Wie konnte ich dir bloß vertrauen? Musstest du gleich die Bullen rufen?«
»Mäßigen Sie Ihren Ton, Larsen«, sagte Harald Barthel. »Und setzen Sie sich wieder hin. Niemand hat die Polizei gerufen.«
»Nein, die taucht hier sicher jeden Tag gewohnheitsmäßig auf.« Larsen wandte sich an Dietrich. »Oder sind Sie zur Security gewechselt? Braucht ein Haus wie dieses hier ja bestimmt. Da verdient
man natürlich mehr. Für höhere Ansprüche.« Den letzten Satz begleitete ein Grinsen.
In Dietrichs Augen war es höhnisch und anzüglich zugleich, er konnte nur hoffen, dass Kassandra und Barthel das nicht ebenso deuteten. Ihn selbst kostete es enorme Mühe, ruhig zu bleiben. »Es ist
mir weit mehr wert, Leute wie Sie hinter Gitter zu bringen.«
»Also immer noch Bulle.« Ohne Dietrichs Antwort abzuwarten, wandte Larsen sich wieder an Kassandra. »Du hast versprochen, mir zu helfen, und Sie auch.« Sein Blick wanderte zu Barthel, seine
Stimme hob sich. »Ist ja nicht weit her mit der Fischländer Gastfreundlichkeit, liegt mehr Verrat und Lüge in der Luft, als ich dachte.« Ruckartig nahm er das Glas, das auf dem Tisch stand, und
schleuderte es samt Inhalt auf den glänzenden, perfekt versiegelten Parkettfußboden.
Aus den Augenwinkeln sah Dietrich Kassandra zusammenzucken, während sich Barthel Larsens Ausbruch erstaunlich gleichmütig mit ansah. Und Larsen war noch nicht fertig.
»Dieses Scheißkaff kann mir gestohlen bleiben, was mach ich eigentlich hier? Ich wollte, alle Kriemanns dieser Welt würden in der Erde verrotten! Ich find schon eine Lösung. Mich linkt keiner
mehr.« Er drängte Kassandra zur Seite, die ihn verdutzt anstarrte, als hätte er etwas gesagt, das für sie eine Bedeutung hatte, und wollte sich an Dietrich vorbei in den Flur schieben. Er kam
nicht weit.
»Sie gehen nirgendwo hin.« Dietrich packte Larsen und drückte ihn gegen die Wand.
»Sagt wer?« Larsen versuchte vergeblich, sich freizukämpfen.
»Ich sage das.«
»Es liegt nichts gegen mich vor, Sie können mich hier nicht festhalten.«
»Sie sehen doch, dass ich das kann.« Dietrichs Griff wurde fester. Er musste sich zwingen, Larsen genug Luft zum Atmen zu lassen.
»Was soll das?«, röchelte Larsen. »Ihr privater …« Weiter kam er nicht, Kassandra stand wie aus dem Nichts direkt neben ihnen.
»Was hast du damit gemeint: ›alle Kriemanns dieser Welt‹?«
Dietrich warf ihr einen Blick zu und lockerte seinen Griff, damit Larsen besser reden konnte. Doch der schwieg. Dietrichs Griff wurde wieder härter. »Es ist unhöflich, einer Dame nicht zu
antworten.«
Larsen hustete, und Dietrich ließ ein Stück weit von ihm ab. »Albert Kriemann«, keuchte Larsen. Als Zugeständnis gab Dietrich ihn frei.
Larsen betastete seinen Hals und räusperte sich. »Deshalb war ich neulich hier. Ich brauche Informationen über den Mann.«
Auch Harald Barthel war jetzt herangekommen. »Wer ist Albert Kriemann?«
3. Station
Hooghass/Zur Glippe, Pauls Haus
"Fischland-Lügen", Kassandras 6. Fall
(Anmerkung: Im Gegensatz zu Kassandras Pension, die konkret in der Lindenstraße steht und die ich sehr dicht angelehnt habe an die dortigen Kapitänshäuser, habe ich sowohl Pauls Haus als auch den Standort erfunden. Zugang dazu hat man in meiner Phantasie vom Hooghass aus, etwa an dieser Stelle rechts auf dem Foto vor dem Baum. Man müsste allerdings noch ein ganzes Stück gehen, bis man an Pauls blauer Tür klingeln kann.)
Als sie vor Pauls Haus ankam, war sie völlig außer Atem und musste an einen lange zurückliegenden Tag denken, an dem sie das allererste Mal vor seiner Tür gestanden hatte, ebenso aus der Puste
und noch dazu verdreckt vom Herumklettern in der Ruine der alten Seefahrtschule. Sie hatte geklingelt, Paul hatte geöffnet – und sie vor Sorge in die Arme genommen, obwohl sie einander kaum
gekannt hatten.
Jetzt zog sie den Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss leise auf. Sie erwartete, im Dunkeln zu stehen, doch auf dem Schreibtisch brannte Licht. Paul saß vor seinem Laptop und schrieb. Wie
schaffte er das? Wie konnte er so ruhig sein? Gerade in dieser Nacht? Still beobachtete sie ihn und spürte plötzlich, wie sie selbst immer ruhiger wurde.
»Paul?«, sagte sie leise.
Er fuhr herum. Und sie merkte, dass sie sich getäuscht hatte. Paul war nicht ruhig, sein Gesicht, seine Haltung waren angespannt, seine Augen müde. Er hatte genauso wenig schlafen können wie sie
und nur die Zeit sinnvoller verbringen wollen, als sich im Bett hin- und her zu wälzen.
»Du solltest nicht hier sein«, sagte er.
Kassandra erstarrte. Er wusste es. Er wusste von dem Chaos in ihr. Natürlich. Paul kannte sie in- und auswendig und hatte all das schon längst geahnt. Daher sein Unwillen, über Kay zu reden,
daher seine mehrdeutigen Bemerkungen, daher seine Blicke. Er wusste es.
»Hoffen wir, dass Miriam einen festen Schlaf hat«, fuhr er fort, »und dich nicht hat weggehen hören.«
Kassandra öffnete den Mund, aber nichts kam heraus. Miriam. Er meinte Miriam und die Absprache, dass sie diese Nacht getrennt verbringen sollten. Sie sah, wie Paul schließlich aufstand und auf
sie zukam. Vor ihr blieb er stehen und strich mit seinem Zeigefinger über ihre Wange, eine Geste, die sie immer geliebt hatte. Die sie liebte. Sie schloss die Augen.
Er nahm die Hand fort. »Was ist los, Kassandra?« Sein Blick war nicht mehr müde, sondern ganz wach.
Sie riss sich zusammen. »Kays Truppe«, brach es aus ihr heraus.
Paul verstand sofort. »Du hast recht. Hoffen wir, dass Rieka noch unter ihrer alten Nummer zu erreichen ist.« Er sah Kassandra zuerst erwartungsvoll, dann ungeduldig an, als sie keine Anstalten
machte, ihr Telefon hervorzuholen. »Worauf wartest du?«
»Ruf du sie an. Du konntest besser mit ihr.«
»Keine gute Idee. Wahrscheinlich weiß sie, dass mein Vorschlag nach Gretas Entführung alles ins Rollen brachte. Wenn das mitursächlich für das Auseinanderbrechen der Truppe war, ist sie auf mich
noch schlechter zu sprechen als auf sonst jemanden.«
Zögernd nahm Kassandra ihr Telefon zur Hand. Würde Rieka überhaupt abnehmen um halb drei in der Frühe?
»Ja?«, fragte eine verschlafene Stimme.
»Rieka, hier ist Kassandra Voß. Entschuldige die späte Störung, aber ich brauche dringend deine ...«
»Kassandra?« Dieses eine Wort klang scharf, jeder Schlaf war daraus verschwunden. »Ist nicht dein Ernst, oder? Was immer du brauchst, von mir wirst du es nicht bekommen. Ruf mich nie wieder an.«
4. Station
Norderfeld
"Fischland-Lügen", Kassandras 6. Fall
(Anmerkung: Auch den Hof von Heiko Jordan habe ich erfunden. Das Norderfeld dagegen gib's natürlich. Es ist idyllisch leer bis auf ein paar grasende Tiere.)
Außer Atem erreichte Kassandra das Norderfeld. Heikos Hof lag im Dunkeln und wirkte verlassen. Natürlich. Heiko saß in U-Haft, niemand würde erwarten, dass Licht brannte. Oder war tatsächlich
niemand – mehr – dort? Kam sie zu spät?
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Alles blieb ruhig, nichts deutete darauf hin, dass außer ihr jemand hier war. Ihr sechster Sinn sprach jedoch eine deutlich andere Sprache. Auf
der Höhe der kleineren der beiden Scheunen blieb sie stehen und lauschte. Da. War das das Klappen der Haustür gewesen? Sie drückte sich in den Schatten des Traktors, dicht an den hohen Reifen,
roch das Gummi und die Erde, die sich ins Profil gegraben hatte, und hoffte, dass niemand ums Haus herumkommen würde. Sie hörte sehr leise Schritte und dann ein erneutes Türenklappen, wie das
eines Wagens. Dann das Geräusch eines Anlassers. Scheinwerfer trafen die große Scheune, Kassandra drückte sich noch enger an den Traktor, und als der Lichtkegel größer wurde und ein Van um die
Hausecke bog, hastete sie mit weichen Knien um den Traktor herum, um so den Scheinwerfern auszuweichen. Langsam fuhr der Van zwischen dem Traktor und den Scheunen entlang in Richtung Straße. Da
blieb der Wagen ein Stück entfernt stehen. Kassandras Herz rutschte in die Hose. Sie fühlte sich wie festgefroren, aber etwas in ihr zwang sie trotzdem, um den Traktor herumzulugen.
Sie sah gerade noch, wie die roten Rücklichter des Vans erloschen, hörte, wie der Motor abgestellt wurde. Doch kurz darauf sprang der Motor sprang wieder an, der Van setzte sich in Bewegung und
fuhr endgültig vom Hof. Kassandra richtete sich auf, trat aus ihrer Deckung, lief hinüber zu der Hintertür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Mit einem kaum wahrnehmbaren Quietschen der
Scharniere gab die Tür nach. Kassandra öffnete sie gerade weit genug, um hindurchzuschlüpfen, und betete, dass tatsächlich niemand mehr hier war. Außer Kay. Und dass sie nicht zu spät kam.
Ein paar alte Bauernmöbel standen in der Diele, ein Schrank, ein Tisch und acht Stühle. Bewegungslos lauschte sie, dann huschte sie nacheinander zu den offen stehenden Türen, schaute aber nur in
leere Räume. Sie durchquerte die Diele und wiederholte die Prozedur auf der anderen Seite. Kein Laut, niemand hielt sich in den Zimmern auf, auch nicht hinter dem Vorhang gegenüber dem letzten
Raum. Der allerdings war zugesperrt. Sie drückte ihr Ohr gegen das Holz der Tür und hörte eine leises Stöhnen, dann polterte etwas, dann war es wieder ruhig.
Kassandra wusste, wie riskant es war, dennoch wisperte sie mit den Lippen dicht am Türspalt: »Kay? Bist du da drin?«
Keine Antwort.
»Kay?«, versuchte sie es einen Tick lauter. Eine endlose Sekunde verstrich.
»Kassandra?« Kaum zu verstehen, aber Kays Stimme.
»Ja. Ich ...«
»Verschwindet von hier«, unterbrach er sie. »Ihr müsst ...«
Was er noch sagen wollte, wurde übertönt vom lauten Zuschlagen der Eingangstür. Sie saß in der Falle.
5. Station
Schmiedestraße,
Haus von Kapitän Kurt Tiede
"Bodden-Nebel", Gretas 2. Fall
Erst als Matthias und ich in der Schmiedestraße ankamen und vor dem großen weißen Kapitänshaus mit den hellblauen Fensterläden stehen blieben, wurde mir wieder schwer ums Herz und etwas mulmig
zumute.
Unsicher öffnete ich das weiße Gartentörchen und ging den kurzen Weg zur kunstvollen Fischländer Haustür, die in Blauweiß gehalten war und deren längliche Fenster dunkelblaue Sprossen zierten.
Ich holte tief Luft und klingelte bei Kapitän Tiede. Es dauerte nicht lange, bis uns ein relativ kleiner Mann mit kahlem Kopf öffnete. Meine Phantasie reichte nicht, um ihn mir als Kapitän in
einer schmucken Uniform auf einem der großen Handels- oder Kreuzfahrtschiffe der Deutschen Seereederei vorzustellen, die über die Weltmeere gefahren waren.
»Ja?«, fragte er schnarrend.
»Guten Tag, Herr Tiede«, sagte Matthias. »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich ...«
»Sie sind Matthias Röwer«, sagte Kurt Tiede, »und ich nehme an, die Dame in Ihrer Begleitung ist Ihre Frau. Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann mochte klein und kahl und alt sein, aber das tat seiner Autorität keinen Abbruch, und ich wartete auf das Gefühl, das mich überkommen musste bei dem Gedanken daran, was er vor
Jahrzehnten wahrscheinlich getan hatte. Aber ich fühlte nichts, ich sah nur einen alten Mann, den ich noch weniger mit einem vierzehnjährigen herzlosen Jungen als mit einem schicken Uniformträger
in Verbindung bringen konnte.
»Wir sind in einer etwas heiklen Angelegenheit hier«, sagte Matthias vorsichtig und wartete, ob uns Kurt Tiede auf diese Ankündigung hin hereinbitten würde. Nichts dergleichen geschah.
»Heikel? Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein sollte. Darf ich Sie bitten, zum Punkt zu kommen? Ich muss mich um meine kranke Schwester kümmern.« Seine Stimme wurde etwas sanfter, als er
seine Schwester erwähnte.
»Das tut uns leid, wir wollen Sie nicht lange aufhalten«, übernahm ich. »Vielleicht haben Sie gehört, dass ich Schriftstellerin bin. Zurzeit recherchiere ich mit der Hilfe meines Mannes über das
historische Barnstorf und das alte Fischland.«
»Wenn Sie darüber etwas wissen wollen, müssen Sie mit Paul Freese sprechen«, unterbrach er mich, nicht unfreundlich, aber sichtlich auf heißen Kohlen.
»Das haben wir schon getan, leider kann er uns nicht helfen. Ich bin allerdings darauf gestoßen«, formulierte ich so, dass es nicht klang, als hätte Paul uns zu Tiede geschickt, »dass Sie im
Krieg bei der Hitler Ju...«
Weiter kam ich nicht, sein eingefallenes Gesicht wurde zu einer ausdruckslosen Maske. »Worauf Sie da gestoßen sind, ist eine infame Lüge«, ging er dazwischen.
6. Station
Karl-Marx-Straße, ehemaliges Haus der Familie Thurow
"Fischland-Lügen", Kassandras 6. Fall
Als ihr Spaziergang sich dem Ende neigte, blieb Paul vor einem Haus in der Karl-Marx-Straße stehen.
Ein wenig erinnerte es an Kassandras Kapitänshaus. Es war aus rotem Backstein gebaut, und auch hier war die Fischländer Tür in grün-weiß gehalten. Diese hatte allerdings mit kunstvollen
Ziersprossen versehene Fenster und als Sichtschutz innen einen weißen Fensterladen. Die Fensterläden außen waren wie die Tür grün-weiß gestrichen mit einer roten Umrahmung dazwischen. Der
Vorgarten war schlicht gehalten, der Zaun hätte ein bisschen Farbe vertragen können, und das Törchen darin hing ein wenig schief in den Angeln. Alles in allem ein uriges Haus, das gleichzeitig
Fischländer Gelassenheit ausstrahlte.
»Wer wohnt hier?«, fragte Miriam.
»Es kommt eher darauf an, wer hier mal gewohnt hat«, antwortete Paul. »Dominiks Eltern.«
Miriam trat einen Schritt näher und legte zögernd die Hand auf das grüne Törchen. »Ob die Leute, die jetzt da leben, etwas über sie wissen? Haben Sie die schon gefragt?«
»Ja, habe ich. Es kam nicht viel dabei raus, aber sie haben mir etwas gegeben, das sie bei ihrem Einzug in der Diele auf dem Fußboden fanden.« Aus seiner Jackentasche holte er ein Foto hervor und
reichte es ihr. »Margot und Eberhard Thurow.«
Überrascht, weil Paul ihr das bisher vorenthalten hatte, trat Kassandra etwas näher zu Miriam, um es ebenfalls zu betrachten. Dabei bemerkte sie, dass deren Hände zitterten.
Paul hatte recht gehabt: Margot Thurow war eine hübsche Frau gewesen. Blonde Haare umspielten ein fröhlich lächelndes Gesicht, um ihren linken Mundwinkel hatte sich ein Grübchen gebildet, helle
Augen strahlten den Betrachter an. Eberhard Thurow hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, nicht locker, eher besitzergreifend. Seine Haare waren dunkler, sein Ausdruck ernster, ein bisschen,
als würde er sich fragen, was die Welt noch mit ihm vorhatte.
»Sie wirken glücklich«, sagte Miriam.
Sah sie nur, was sie sehen wollte? Als sie Paul das Bild zurückgeben wollte, schüttelte er den Kopf.
Behalten Sie es ruhig. Sieht Dominik seiner Mutter oder seinem Vater ähnlicher?«
Noch einmal vertiefte Miriam sich in das Foto und schreckte hoch, als ein Auto kam und auf den Parkplatz des Restaurants »Schifferwiege« fuhr.
»Ich weiß nicht. Er hat die dunklen Haare seines Vaters, aber die hellen Augen seiner Mutter. Warten Sie.« Sie holte ihr Handy hervor und zeigte ihm das Foto, das Kassandra schon kannte: ein
attraktiver Mann mit braunen Haaren und weit auseinanderstehenden grauen Augen. »Er mochte nicht gern fotografiert werden«, erklärte Miriam. »Deshalb guckt er so ungnädig. Aber er hatte ein
wunderbares Lächeln, wie das von seiner Mutter. – Oh Gott, ich meine natürlich, er hat ein wunderbares Lächeln. Ich darf nicht immer ... Ich muss einfach positiver denken.«
»Das sollten Sie«, sagte Kassandra. »Und wir sollten weitergehen, wenn wir keine Aufmerksamkeit auf uns lenken wollen.« Aus den Augenwinkeln hatte sie die Bewegung einer Gardine im Haus gesehen.
7. Station
Peter-Voß-Weg, Haus von Albert Kriemann
"Fischland-Verrat", Kassandras 4. Fall
(Anmerkung: Albert Kriemann ist eine historische Person, und dies war tatsächlich sein Haus, obwohl es damals sicher anders aussah.)
»Hoffen wir, dass wir Conrad Arndt heute Abend etwas besser kennenlernen«, sagte Harald.
»Wir?«, wiederholte Kassandra.
»Ich bin ja wohl schon mittendrin“, stellte Harald fest. „Falls Heinz recht hat, beherberge ich gerade einen Mörder.«
»Glaubst du das?«, fragte Kassandra.
Harald hob die Achseln. »Ich bin nicht gerade der Menschenkenner vorm Herrn, die bittere Pille musste ich schon schlucken.« Er verzog das Gesicht. »Sicher sind mehr Menschen fähig zu töten, als
wir gemeinhin annehmen.«
»Und was denkst du sonst über Sven?«
»Dass ich gern wüsste, ob er feige ist, weil er sich bei dir verkriechen wollte, oder ob er es nur besonders klug anstellt, das zu erreichen, was er will.«
Als wäre das eine Art Schlusswort gewesen, schwiegen sie für den größten Teil des Weges, der sie quer durch Wustrow führte, und ihr Schweigen hielt an, bis sie in den Peter-Voß-Weg einbogen. Als
hätten sie es verabredet, blieben sie vor der Nummer 1 stehen, einem kleinen, unscheinbaren, sonnengelb gestrichenen Haus mit braunen Fenstern und roten Dachziegeln. In den Gehweg davor war eine
blaue Kachel mit einem Segelschiff und einer 21 darauf eingelassen, um das Haus als Teil des Wustrower »Kulturpfades« zu kennzeichnen. Hier hatte Albert Kriemann gelebt, der Schiffsschnitzer vom
Fischland.
Bewegt sah Kassandra am Haus empor. »Wenn er vor so vielen Jahrzehnten gewusst hätte, dass wegen seines wunderschönen Modells der ›Kassiopeia‹ möglicherweise einmal ein Mensch würde sterben
müssen …«
8. Station
Wustrower Mühle
"Bodden-Tod", Gretas 1. Fall
»Du niederträchtige kleine Schlampe!«, brüllte Annett.
In einer blitzschnellen Bewegung löste sich Matthias von mir und positionierte sich schräg vor mich, um mich vor ihr abzuschirmen. Ich fand zu langsam in die Gegenwart zurück, dennoch sah ich sie
mit erhobenem Arm direkt auf uns zusteuern. Sie hatte etwas Langes, Spitzes in der Hand – einen Brieföffner, den sie vom Schreibtisch genommen haben musste. Plötzlich wurde Annetts Arm
heruntergerissen.
»Annett! Hör auf damit! Er ist es nicht wert, und sie schon gar nicht.« Mark hielt sie fest umklammert.
Annett kämpfte gegen ihren Bruder an. »Sie soll kriegen, was sie verdient. Sie kann ... hier nicht einfach auftauchen und ... alles kaputtmachen, sie ...« Allmählich ging ihr der Atem aus, weil
sie gleichzeitig redete und sich gegen Mark zur Wehr setzte, der sie unnachgiebig festhielt.
»Greta hat gar nichts kaputtgemacht, Annett«, sagte Matthias ganz ruhig. »Wenn du jemanden töten willst, dann mich. Das hättest du schon damals tun sollen, statt deinen Zorn an Wiebke
auszulassen. Dann wäre uns allen eine Menge erspart geblieben.«
Mit einem Schlag stand Annett stocksteif da. »Was?«
»Du hast mich sehr gut verstanden.«
»Was soll der Blödsinn?«, schaltete Mark sich ein, doch er vergaß kurzzeitig, Annett festzuhalten, die aus seinen Armen schlüpfte, schrill auflachte und mit wenigen Schritten aus dem Büro
lief.
Unwillkürlich setzte Matthias ihr nach, wurde aber von Mark aufgehalten, der ihm den Weg verstellte.
»Lass sie gehen. Du meinst doch wohl nicht ernst, was du eben gesagt hast.«
Ohne ein Wort wollte Matthias Mark zur Seite stoßen, und ich hatte für einen verrückten Augenblick keinerlei Zweifel, dass ihm das mühelos gelingen würde, trotz Marks körperlicher Überlegenheit.
Dann jedoch senkte Matthias die Arme und trat zurück, neben mich.
»Deine Schwester ist krank, Mark«, sagte er. »Eifersucht ist vermutlich nur ein Teil ihres Problems.«
Mark machte einen Schritt auf ihn zu. »Wie kannst du wagen, so zu reden? Du hintergehst Annett und versuchst noch dazu, ihr ein Verbrechen anzuhängen, das sehr wahrscheinlich du begangen hast. Du
warst mein Leben lang mein Freund, ich stand immer auf deiner Seite, obwohl ich mir nie sicher war, ob du nicht doch mit Wiebkes Tod zu tun hattest. Jetzt reicht's. Ich sollte auf einen Freund
wie dich lieber verzichten.«
Matthias' nächste Worte klangen leicht, aber er stand so dicht bei mir, dass ich seine Anspannung spürte.
»Tut mir leid, dass du das so siehst. Unter diesen Umständen sollten wir unsere Freundschaft beenden. Und wo wir schon dabei sind, Dinge zu klären: Ich schlage dir ein Geschäft vor, eins, bei dem
du beträchtlichen Gewinn machst.«
»Ein Geschäft?«
Mark verschränkte die Arme vor der Brust. Es war ein albernes Klischee, aber ich sah buchstäblich Euro-Zeichen in seinen Augen.
9. Station
Fischländer Friedhof,
Grab von Albert Kriemann
"Fischland-Verrat", Kassandras 4. Fall
Svens Kopf traf auf die Spitze des Kreuzes, begleitet von einem Geräusch, das Kassandra durch Mark und Bein drang. Entsetzt sah sie Svens Körper wie in Zeitlupe am Grabstein hinabrutschen, bis er
reglos daneben liegen blieb. Viviane Kruse dagegen schaute eher verärgert auf Sven und Paul, der jetzt neben ihm kniete.
»Was ist mit ihm?« Kassandra kam ihre eigene Stimme fremd vor.
Ohne aufzusehen, sagte Paul: »Schädelbruch wahrscheinlich. Hilf mir mit der stabilen Seitenlage.«
Kassandra ging in die Knie, folgte Pauls Anweisungen und bekam dann mit, wie er nach dem Telefon griff und den Notruf anwählte. Svens Augen blieben geschlossen, an seiner Wange lief Blut entlang,
das mit dem aus dem rechten Ohr bereits den Kragen seiner Jacke tränkte.
»Ich gehe jetzt«, hörte sie wie aus weiter Ferne Viviane Kruse sagen.
»Die von der 112 fordern auch die Polizei an«, sagte Paul. »Sie sollten hierbleiben, bis die kommt. Alles andere wird Ihnen weit mehr schaden.«
»Sie werden mir nicht vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe«, sagte Viviane Kruse. »Ich gehe.«
»Wenn Sie gehen, war es das mit Ihrer Chance auf den Ring«, sagte Paul. »Im Übrigen kann ich der Polizei einiges über Ihre Beziehung zu Herrn Leiendecker erzählen, der in Ihrem Auftrag Frau Arndt
bedroht hat.«
»Was immer Sie zu wissen glauben, können Sie nicht beweisen«, sagte die Kruse unbeeindruckt.
Kassandra gefiel der Tonfall nicht, sie schaute hoch.
»Selbst wenn das so wäre«, fragte Paul, »würde die Polizei Ihren Handlanger auf meinen Hinweis hin vernehmen. Schätzen Sie den so hartgesotten ein, dass er den Mund hält?«
Wie herbeigezaubert hielt Viviane Kruse plötzlich eine Pistole in der Hand. Kassandra hatte nicht gesehen, woher sie kam, sie sah nur, dass sie auf Pauls Kopf gerichtet war.
»Sagen Sie mir, wo der Ring ist, sofort«, forderte die Kruse.
Ohne zu überlegen, sprang Kassandra auf. Fast synchron dazu schallte zu ihnen herüber: »Polizei! Waffe runter!«
Kassandra war wie versteinert, während die Kruse nicht sofort reagierte und immer noch auf Paul zielte. Die Stimme hatte Kassandra als die von Kay identifiziert. Sie erwartete, jeden Moment von
überall her Polizisten auf die Bildfläche treten zu sehen, doch niemand machte sich bemerkbar.
Viviane Kruse hatte sich für eine Taktik entschieden. »Sie werden nicht schießen, solange ich auf einen Unschuldigen ziele. Das tut die Polizei nie. Zu viel Angst vor negativer Publicity, wenn
was schiefgeht.«
Kalter Schweiß stand auf Kassandras Stirn. Dass die Kruse noch einen Schritt näherkam, so nah, dass die Pistole im Mondlicht glänzte und die Mündung überdeutlich zu erkennen war, machte es nicht
besser.
»Wo ist der Ring?«, fragte die Kruse erneut.
Kassandra spürte Pauls Bewegung beim Luftholen. »Weiß ich nicht.«
»Verlassen Sie sich nicht auf Ihre Vorurteile, Frau Kruse. Nehmen Sie die Waffe runter. Jetzt«, wiederholte Kay.
Ungerührt richtete Viviane Kruse die Pistole nun auf Kassandra. »Ich rate Ihnen, sich zu erin…«
Die Explosion eines Schusses beendeten ihren Satz mitten im Wort. Viviane Kruse riss es von den Füßen.
10. Station
Fischländer Friedhof,
"Grab" der drei britischen Flieger
"Bodden-Nebel", Gretas 2. Fall
(Anmerkung: Die Geschichte über die im 2. Weltkrieg ermordeten britischen Flieger basiert auf einem Gerücht. Das hält sich allerdings so hartnäckig, dass es unterschiedliche Versionen des Ortes auf dem Friedhof gibt, an dem sie verscharrt worden sein sollen. Eine besagt, sie lägen unter einer Eiche. Ich habe mich für diese Stelle an der Friedhofsmauer entschieden.)
Als Matthias und ich zur Friedhofsmauer neben dem Grabsteinhügel kamen, wo der letzte Weg von Jacks Kameraden geendet hatte, bat mich Matthias: »Sag mir, was du siehst. Zwei Birken, wie Dr.
Krempien es geschildert hat?«
»Die linke ist fort, man sieht nur noch den Rest des Baumstumpfs dort, wo sie einst gestanden hat. Aber die rechte steht noch, sie ist riesig, ihr Stamm ein paar Meter hoch dicht mit Efeu
überrankt, wie ein Teil der Mauer daneben. Es muss hier sein, direkt vor uns, aber nichts, absolut gar nichts deutet darauf hin, dass da mehr ist als Erde, herabgefallenes Laub, Gras und Moos.
Dass es ein Grab ist, dass ...« Ich hielt inne.
»Was?«
»Das ... das ist verrückt.« Meine eigene Stimme kam mir fremd vor, heiser. »Da ist ein Herz. Ich meine, ein kleines Stück Erde, auf dem nichts wächst. Es wird von Moos umrahmt, und das Innere ist
ein Herz. Vielleicht ist das nur Zufall, aber ...«
»... vielleicht auch nicht?«
»Ja. Vielleicht auch nicht.« Ich hob den Blick und nahm alles in mich auf, den Grabhügel rechts von uns, die Hecke, die ihn von der Stelle abtrennte, an der wir standen. Die Birke, die Mauer, das
Wäldchen dahinter, der blaue Himmel über uns. »Es ist so friedlich hier«, sagte ich leise.
»Friedlich«, wiederholte Matthias. Er schloss die Augen, und ich ahnte, er sah vor sich, wie Dr. Krempien und drei Jungs drei Leichen verscharrten, als die Welt alles andere als friedlich gewesen
war. Als Bomben fielen, Menschen unendliches Leid erfuhren und starben – auf den Schlachtfeldern, in der Luft, auf und unter den Meeren, in Häuserruinen und Konzentrationslagern.
Aus meiner Jackentasche holte ich einen faustgroßen, fast runden Stein, den ich vor ein paar Wochen an unserem Boddenufer gefunden hatte. In der Mitte war er in Herzform vom Wasser tief
ausgehöhlt. Als hätte ich geahnt, was wir hier finden würden. Ich ging in die Hocke und legte den Stein in das Herz auf dem Boden. Eigentlich hatte ich etwas sagen wollen, doch mir fehlten die
Worte.
11. Station
Neue Straße, Fischlandhaus
"Fischland-Angst", Kassandras 5. Fall
Die Neue Straße lag wieder völlig unbelebt vor Kassandra, und erst jetzt bemerkte sie ihre Anspannung. Sie ging ein paar Meter weiter zum »Fischlandhaus«, setzte sich dort auf eine Bank und
wartete, dass Arvid wieder aus Magdas Haus kam.
»Kennen die beiden sich?«, wisperte sie unwillkürlich. Hatte Magda Fehning gar nichts beobachtet, sondern selber mit der Entführung zu tun? Als Kay diese Möglichkeit neulich angesprochen hatte,
hatte sie das für unsinnig gehalten.
Seufzend lehnte sie sich auf der Bank zurück und betrachtete eine ganze Weile den Mond, der zwischen den Wolken hervorlugte. Plötzlich horchte sie auf. Da war ein Geräusch. Schritte, sie hatte
nicht aufgepasst. Und sie saß hier auf dem Präsentierteller! Es war zu spät, um sich zu verstecken, schon kam jemand in ihre Richtung. Für eine Sekunde hoffte sie, es wäre nicht Arvid, doch in
der nächsten erkannte sie, dass ihre Hoffnung trog. Sie würde sitzen bleiben, sich nicht rühren. Vielleicht sah er sie nicht, vielleicht war er in seine eigenen Gedanken versunken, wie sie eben
in ihre, und der Mond tat ihr sogar den Gefallen, hinter den Wolken zu verschwinden.
»Kassandra?«
So viel zu den Hoffnungen und dem Mond und den Wolken. Sie tat, als habe Arvid sie aus tiefsten Grübeleien geholt, und schaute auf. »Arvid?« Und ging zum Angriff über, während sie sich erhob.
»Was machst du denn so spät noch hier?«
Arvid legte den Kopf schief. »Dasselbe wollte ich dich gerade fragen. Es ist tagsüber hübsch lauschig, aber um diese Zeit etwas zu kühl, um sich auf der Bank niederzulassen.«
»Das habe ich auch eben festgestellt.« Sie umschlang ihren Körper mit den Armen. Dabei musste sie nicht mal so tun, als ob. Die Kälte hatte sich tatsächlich in ihr breit gemacht.
»Tja, dann sollten wir beide zusehen, dass wir nach Hause kommen.« Trotz seiner Worte blieb Arvid stehen, als warte er noch immer auf eine Erklärung von ihr.
»Ich war bei Frau Herrmann“, log sie. „Sie wohnt ein paar Häuser die Straße runter. Ihr Hund ist krank, sie mag ihn nicht allein lassen, deshalb haben wir die Einkäufe für sie erledigt.«
»Nett, dass du die so spät noch vorbeigebracht hast.« Arvid bedachte sie mit einem forschenden Blick. »Erklärt aber nicht, weshalb du im Dunkeln auf der kalten Bank sitzt.«
Treffer, versenkt.
»Du zuerst«, parierte sie.
»Ich? Ich habe auf keiner Bank gesessen.«
»Aber wie du schon sagtest: Es ist tagsüber hübsch lauschig hier. Nachts sind alle Katzen grau, sogar unsere beeindruckenden Rohrdachhäuser, also bist du nicht hier, um die Schönheiten der Neuen
Straße zu bewundern.«
Als Arvid schwieg, wandte Kassandra sich ihm zu. Sie hätte nicht erwartet, ihn schmunzeln zu sehen.
»Ich bin ein alter Mann und leide unter Schlaflosigkeit«, sagte er. »Wenn ich durchs Haus wandere, störe ich nur alle, da wandere ich lieber durchs Dorf.«
Diesmal schwieg Kassandra.
»Was ist?«, erkundigte sich Arvid.
»Es ist spät, aber noch nicht Schlafenszeit.«
Arvid blieb stehen, was Kassandra erst mitbekam, als sie schon zwei Schritte weitergegangen war. Sie schaute zurück zu ihm, er fixierte sie. Nicht unfreundlich. Aber da lag etwas in seinem Blick,
das sie selbst in der Dunkelheit zu erkennen glaubte: Misstrauen.
12. Station
Neue Straße, Haus von Hildegard Herrmann
"Fischland-Feuer", Kassandras 3. Fall
»Findest du nicht, dass der aussieht wie Bruno?«, fragte Kassandra und deutete auf den Gartenzwerg mit der Angel in Hildegard Herrmanns Vorgarten. Dahinter erhob sich ein weißes Haus mit weit
überhängendem Rohrdach und grün-roten Fensterläden.
»Bruno würde dich für diese Bemerkung lynchen«, meinte Paul und schob das niedrige Tor auf. »Kannst du ihn dir mit Zwergen im Garten vorstellen?«
Kassandra lachte. »Nein, aber bei Angeln muss ich nun mal zuerst an ihn denken.«
Paul drückte auf die Klingel neben der dunkelbraunen Tür.
»Herr Freese«, sagte Hildegard Herrmann etwas verwundert. »Das ist aber nett, dass Sie mich besuchen. Kommen Sie doch rein.«
Als sie in dem niedrigen, gemütlich eingerichteten Zimmer mit Blick auf einen traumhaften Garten voller Sonnenblumen saßen, kam Paul gleich zum Punkt. »Wir sind wegen des Feuers bei Niklas Thiel
hier.“
Hildegard Herrmann schien ein Licht aufzugehen, sie wandte sich an Kassandra. »Hat Heinz Jung Sie geschickt? Er hat gestern mit mir gesprochen, und ich hatte den Eindruck, er glaubt mir nicht,
was ich sage.«
»Niemand hat uns geschickt«, sagte Kassandra. »Wir hatten allerdings gehofft, Ihnen würde doch noch etwas einfallen, was Sie gesehen haben.«
Hildegard Herrmann schwieg, also sagte Paul: »Wir würden gern versuchen, Niklas' Abend zu rekonstruieren. Ob er Besuch hatte oder was er sonst gemacht hat.«
Endlich schaute Hildegard Herrmann auf. »Ich habe leider wirklich nichts weiter gesehen als die Flammen, als ich auf dem Heimweg dort vorbeikam.«
»Aber vielleicht vorher?«, fragte Paul.
»Ich bin vorher gar nicht da gewesen«, widersprach Hildegard Herrmann eine Spur zu laut und wiederholte exakt das, was sie Heinz erzählt hatte.
»Das ist schade«, sagte Paul leise, aber in deutlich zweifelndem Tonfall.
Frau Herrmann schluckte. „Ich … Also, ich glaube nicht, dass das, was ich gesehen habe, überhaupt was zu bedeuten hat.«
»Manchmal macht eine scheinbare Nebensächlichkeit einen großen Unterschied, Frau Herrmann«, sagte Paul.
»Tja«, machte sie nicht restlos überzeugt. „Das war noch lange vor dem Brand, ich war unterwegs zu … Walter … Grahlert.“ Sie errötete ein klein wenig. „Jemand schaute an der Fassade des Hauses
hoch. Ich konnte nicht wissen, dass das wichtig werden würde, also habe ich nur flüchtig hingesehen. Ich weiß nicht mal, ob es ein Mann oder eine Frau war, heutzutage laufen ja alle in diesen
Kapuzenjacken rum. Im Haus war es dunkel.«
»Das ist doch schon was. Sie sollten das der Polizei mitteilen«, sagte Paul.
»Habe ich getan, nachdem die sagten, ich solle alles erzählen, was mir an dem Abend aufgefallen ist. Ich wollte es nur Herrn Jung nicht aufs Brot schmieren. Der beobachtet sowieso immer alles so
gut, ich wollte nicht, dass er vielleicht ahnt, dass ich ....« Sie errötete wieder. »Ich nehme an, jetzt wird er es doch erfahren?«
Paul grinste. »Der versteht das sicher. Heinz ist gar nicht so bärbeißig, wie er immer tut, und außerdem sehr verschwiegen.«
13. Station
Feldstraße
"Fischland-Rache", Kassandras 2. Fall
(Anmerkung: Beim Durchsehen meiner Fotos musste ich feststellen, dass ich tatsächlich nie ein Bild von der oberen Feldstraße gemacht habe, wo folgende Szene mit Blick zur Osterstraße spielt. Das Foto hier zeigt das Eckhaus Thälmann-/Feldstraße.)
Paul bog in die schmale Feldstraße ein, hielt an und schaltete das Licht aus. Im Rückspiegel beobachteten er und Kassandra, wie in einer Wohnung in der zweiten Etage des Wohnblocks in der
Osterstraße das Licht eingeschaltet wurde. Mehr konnten sie nicht erkennen.
»Das heißt wohl, dass Mirko nicht zu Hause ist«, stellte Paul fest und wendete den Wagen, damit sie einen besseren Blick hatten. »Erstaunlich, dass er seinem Vater einen Wohnungsschlüssel
überlassen hat.«
»Vielleicht hat er das nicht«, wandte Kassandra ein. »Oder er stammt aus der Zeit, als sie sich gerade mal nicht gestritten haben.«
Paul lachte kurz auf. »Wann soll das gewesen sein? Wie auch immer – wenn wir davon ausgehen, dass Ralf vorhin versucht hat, Mirko zu erreichen, muss er wissen, dass er nicht da ist. Das heißt, er
will gar nicht mit ihm reden, sondern verfolgt andere Ziele.«
Eine ganze Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas, obwohl Kassandra eine Menge im Kopf herumging.
»Paul?«, brach sie schließlich das Schweigen.
»Ja?«
»Ist Ralf eigentlich klar, dass du nicht nur vermutest, er hätte dich bespitzelt, sondern tatsächlich über ihn Bescheid weißt?«
»Ja.«
Kassandra überlegte, ob sie sich durch diese einsilbige Antwort entmutigen lassen sollte, und entschied sich dagegen. »Hast du ihn damit konfrontiert, nachdem du es rausgefunden hattest?«
»Nein.«
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ralf das Thema selbst zur Sprache gebracht hatte, also musste Paul es auf andere Weise durchblicken lassen haben. Wie und warum war es dazu gekommen?
Kassandra erinnerte sich deutlich an die Worte, die Paul benutzt hatte, als er im Zuge der Recherchen über den toten Kunstgutachter vor Monaten über Ralf Peters gesprochen hatte. Er sagte, er
habe ihn ”unter Druck gesetzt”, damit er mit dem herausrückte, was er wusste. Paul hatte ihr nicht erzählt, was dieses Druckmittel gewesen war, aber es gehörte jetzt nicht mehr viel dazu, eins
und eins zusammenzuzählen.
»Du hast meinetwegen mit ihm darüber geredet. Du hättest es sonst nie erwähnt, oder?«
»Hm.«
»Du kanntest mich gerade mal eine Stunde! Woher wolltest du wissen, dass ich das wert bin?«
Endlich sah Paul sie an, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. »Eine Stunde war lange genug.«
14. Station
Ernst-Thälmann-Straße, Bücherstube
"Bodden-Tod", Gretas 1. Fall
Eine Viertelstunde, bevor die »Bücherstube« schloss, trat ich durch die Tür. Hinter der Kasse stand eine zierliche Frau und unterhielt sich gestenreich mit einem großen grauhaarigen Mann, der
sich beim Klang der Glocke über der Tür umdrehte. Er hatte eine lange Nase und ein ausgeprägtes Grübchen am Kinn, aber bevor ich dazu kam, verlegen wegzusehen, weil ich ihn angestarrt hatte,
fragte mich die Buchhändlerin, ob sie mir helfen könne.
»Danke, ich würde mich gern erst mal umsehen«, sagte ich und steuerte auf das Regal linkerhand zu, auf dem ich Regionalliteratur entdeckt hatte. Während ich nach dem ersten Buch griff, eines über
den Friedhof, das ich bestimmt gut für meine Recherchen brauchen konnte, nahmen der Mann und die Buchhändlerin ihr Gespräch wieder auf.
»Ich finde ja, man sollte sie warnen«, sagte sie. »Stell dir vor, es passiert wieder was. Dann ist es zu spät.«
»Und was sollte wohl passieren?«, fragte er ein kleines bisschen ungeduldig. »Wenn auch nur ein Bruchteil stimmen würde von dem, was ihr euch damals zusammengereimt habt, würde er das kaum
wiederholen.«
»Weiß man nicht, und ich bin nicht die Einzige, die so denkt«, murmelte die Buchhändlerin.
Ich riskierte einen Blick über den Rand des Buchs hinweg, das ich zwar durchgeblättert, von dem ich aber trotzdem erstaunlich wenig wahrgenommen hatte. Den Mann sah ich nur von hinten, aber es
war deutlich zu erkennen, dass er tief Luft holte. Er schüttelte den Kopf.
»Ihr habt alle zu viel Phantasie.«
Für einen Moment dachte ich, er redete mit mir – schließlich war mir gerade dasselbe auf dem Hohen Ufer durch den Kopf gegangen. Das war so unheimlich, dass ich, so dumm es auch sein mochte,
spontan das Buch über den Friedhof weglegte, damit mir daraus keine Geister entgegenkamen, und ohne hinzusehen ein anderes nahm.
Als fände die Buchhändlerin das genauso albern wie ich, lachte sie auf. »Das musst du gerade sagen, Paul.«
Er fiel in ihr Lachen ein. »Touché. Also, wir sind dann weg. Bin gespannt auf diese Insel, die Kay Dietrich uns zeigen will. Guernsey muss phantastisch sein nach allem, was er erzählt hat. Heinz
kümmert sich um die Pension.«
»Wer hätte das vor ein paar Jahren noch gedacht!«, meinte die Buchhändlerin schmunzelnd.
Der Mann namens Paul lachte wieder. Dann hob er grüßend die Hand. Als er sich umwandte, fiel sein Blick auf mich und das Buch, das ich in den Händen hielt. Ganz kurz leuchtete sein Gesicht auf,
dann nickte er mir zu und öffnete unter dem Läuten der Glocke die Tür.
Das waren sie nun, meine beiden Krimi-Spaziergänge. Schön, dass Ihr auch bei der zweiten diesjährigen Tour dabei wart.
Und wenn es nächstes Jahr nicht nur virtuell, sondern auch persönlich klappt, würde ich mich freuen!